Ein Jahr ist es her, dass meine gute Freundin Norma und ich zusammen in unserem Lieblings-Weinlokal saßen. Wir tranken einen spritzigen Grauburgunder, aßen Grissini und sprachen über dies und jenes. Es war eine entspannte Stimmung. Irgendwann begannen wir, über unsere Arbeit zu reden. Ich erzählte von einem aktuellen Essay-Band-Projekt mit dem Arbeitstitel „Liebesmensch“, während sie über ihre Ideenlosigkeit klagte. Sie habe einfach keinen Einfall für das Buchprojekt, das sie seit Wochen plane. In Anbetracht des Zeitpunktes unseres Treffens, es war Mitte Dezember, schlug ich ihr vor, etwas über Weihnachten zu schreiben. Keine Sekunde verging, da rief sie: „Das mache ich, Fabian!“ Sie hatte sofort Ideen zum Buch. Durchs Land fahren wolle sie, die Menschen in verschiedenen Regionen und ihre Traditionen portraitieren. Wir bestellten einen Champagner und prosteten einander zu auf diese herrliche Idee. „Ein Jahr Zeit habe ich, nächstes Weihnachten soll das Buch erschienen“, sagte sie. Einen Verlag habe sie schon im Auge, "die müssten Interesse an sowas haben". Erfreut notierte sich Norma einiges in ihrem hübschen Notizheft. Nach ein paar Minuten kam mir ein Einfall. „Norma“, sagte ich. „Ich will dich begleiten und eine Reportage über den Entstehungsprozess deines Buches schreiben. Was hältst du davon?“ Sie schaute mich erstaunt an. „Ist das denn interessant, Fabian.“ „Natürlich“, entgegnete ich. „Ich werde die Entstehungsgeschichte deiner Kulturgeschichte schreiben. Dazu will ich dich begleiten, sehen wie du arbeitest.“ Norma wirkte noch immer nicht vollkommen überzeugt, doch dann schenkte sie zwei Schnapsgläser mit Fernet Branca ein, schaute mir tief in die Augen und sagte: „Das machen wir, Fabian!“ Wir tranken den Likör und anschließend direkt zwei weitere Gläser davon. Die Nacht war noch jung – der nächste Morgen grausam. Das weiße Deckenlicht strahlte mich an, während ich im Flur lag. Den Mantel hatte ich noch an, die Bierflasche in meiner rechten Hand musste noch fast voll gewesen sein, als ich mich mit ihr auf den Boden hingelegt hatte. Mein Pullover war vollgesogen mit stinkendem Bier. Bobby, mein Kater, weckte mich auf altbekannte Art, nämlich indem er mir in die Nase biss. Er wollte verständlicherweise etwas zu Essen haben, schließlich war es schon 17 Uhr. Ich quälte mich langsam hoch, während ich angemiaunzt wurde und Blut meinen Nasenrücken herunterlief. Mein Handy klingelte. Es war Norma. Sie hatte sich heute schon drei Mal übergeben und wusste einfach nicht mehr, was wir gestern besprochen hatten, aber irgendetwas wichtiges muss es gewesen sein, hauchte sie mit schwacher Stimme. Ich hatte keine Ahnung mehr. Aber dann, den Kater beim Essen beobachtend, fiel mir ein, wie sie etwas in ihr Notizbuch geschrieben hatte. Ich blieb am Telefon, als sie es herausrauskramte. „Ach ja, Weihnachten“, sagt sie. „Ahhh, stimmt“, sagte ich. Ich legte auf und ging wieder schlafen.
17. März – seit dem Treffen im Dezember hatte ich nichts
mehr von ihr gehört. Heute rief sie mich an und fragte mich, ob ich mich an die
Idee mit dem Weihnachtsbuch erinnern würde. Ich bejahte und sagte, dass ich
bereits glaubte, dass sie das Projekt vergessen habe. „Ach was“, sagte sie.
Seit Wochen recherchiere sie und heute wolle sie nach Hessen ins Upland fahren
und ich solle mitkommen. „Dort gibt es einen unglaublichen Adventsbrauch,
absolut nicht mehr zeitgemäß“ – und deshalb hervorragend für ihr Buch. Ich kam
mit dem Bus zu ihr gefahren, dann rasten wir mit ihrem alten Opel los. Sie
konnte nicht stillsitzen, so aufgeregt war sie. Immer wieder schaute sie
während der Autobahnfahrt auf ihr Handy, denn eine Frau Dahlen wollte sich noch
bei ihr zurückmelden, für die Verabredung eines Gesprächs. Sie sei die
Vorsitzende des Traditionsvereins vor Ort, mit ihren 85 Jahren könne man sie die
lebende Chronik der Stadt nennen, so Norma. „Aber dass die Alte nicht anruft,
ist wirklich zum Kotzen!“, schrie sie auf einmal. „Maan ey, Fabian, ruf du sie
bitte mal an!“ Ich tat, wie mir befohlen. Es tutete kaum ein Mal, da ging Frau
Dahlen ans Telefon: „Ja bitte, Dahlen!“ Ich schilderte, dass ich mit Norma
Zudreit (so der ganze Name meiner Freundin) auf dem Weg zu ihr sei und wo wir
uns treffen könnten. Leider wusste sie von nichts und so kurzfristig – wir
wären ja bald da – könnte sie in ihrem Alter ja auch nicht mehr. Es wäre ja ganz
nett, dass wir uns für ihre Heimat interessieren würden, aber leider ist das
jetzt nicht möglich. Ihr Mann sei grad ins Heim gekommen, der Oberschenkelbruch
mache ihr auch noch sehr zu schaffen, all das. Ich fragte, ob ein Treffen zu
einem anderen Zeitpunkt in Ordnung wäre, aber sie meinte, auf absehbare Zeit
wäre das nicht möglich. Schließlich fand sie mein Fragen viel zu aufdringlich
und meinte mit gereizt klingender Stimme, dass Norma und ich uns bitte nicht
mehr bei ihr melden sollten.
Ich sagte Norma, was Frau Dahlen mir erzählt hatte. Norma
sprach kein Wort, starrte mit zusammengekniffenen Lippen nach vorne, auf die
dunkle Straße. Eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter. Wir fuhren 20
Minuten wortlos weiter, dann teilte sie mit leiser, kaum vernehmbarer Stimme
mit: „Ich fahr hier kurz raus“. Ich entgegnete nichts. Norma stieg langsam aus
dem Auto aus, nahm ihr Handy aus der Jackentasche und warf es mit größter Kraft
auf den Asphaltboden, sodass es in zwei saubere Stücke zersprang. Ich saß
schweigend im Auto blickte mit weit aufgerissenen Augen hinaus. Dann schrie sie
so laut wie sie vermutlich konnte und begann mit ihrem rechten Fuß wieder und
wieder gegen das Auto zu treten. „Scheiße, scheiße, scheiße“, schrie sie,
während sie ihren rechten Fuß zerschmetterte. Schließlich ließ sie ab, setzte
sich auf die Motorhaube und rauchte eine Zigarette. Nach ein paar Minuten
humpelte sie zu mir und bat mich, die Strecke zurückzufahren, sie könne nämlich
nicht mehr auftreten. Um halb 3 kamen wir bei ihr an, um 3:15 Uhr war ich
zuhause.
Am Folgetag fuhr ich gegen 15 Uhr zu ihr. Ich wollte sehen,
wie es ihr ging. Sie hatte sich wieder gefangen, sie wirkte wieder positiver nach
diesem Rückschlag am gestrigen Tag. Nachdem ich mich im Wohnzimmer hingesetzt
hatte, machte sie für uns beide eine Kanne schwarzen Tee. Als ich uns beiden
davon einzugießen versuchte, brach das alte Stövchen auf einer Seite
auseinander, sodass die Kanne halb herunterfiel und sich das kochende Wasser
auf ihren rechten Arm und ihren Oberschenkel ergoss. Wir fuhren sofort ins
Krankenhaus. In den folgenden Wochen musste Norma sich sehr schonen. Ihre Haut hatte
sich glücklicherweise nicht vom Körper abgelöst, aber die riesigen Brandblasen musste
sie mehrfach am Tag mit verschiedenen Salben und Kompressen verpflegen.
In dieser Zeit lag Normas Weihnachtsbuch-Projekt brach. Ab
und zu besuchte ich sie und notierte mir Dinge über sie. Mein Reportageprojekt
über sie sollte weiterlaufen. Wie verhält sich ein Mensch – fragte ich mich –
der ein Buch über die Kulturgeschichte Weihnachtens schreiben will und dabei
immer wieder Hindernisse in den Weg gelegt bekommt? Meine Erkenntnisse über sie
waren interessant, aber leider verbot sie mir, darüber zu schreiben. „Fabian,
kannst du vielleicht deine Reportage über mich abbrechen oder zumindest
pausieren, bis ich wieder auf dem Dampfer bin?“, sagte sie. Ich willigte ein.
Dann schüttelte sie ihren Kopf. „Fabian, weißt du, ich brauche jetzt wirklich
Abstand von dir und diesem dummen Weihnachtsprojekt. Ich melde mich, wenn ich
weitermachen kann. Bitte geh. Jetzt.“ Schweigend und verletzt verließ ich die
Wohnung.
Am 1. Dezember – ich hatte seit über einem halben Jahr
nichts mehr von ihr gehört – rief ich sie an. Norma war wieder gereizt. Dass
sie keine Zeit habe, schrie sie ins Telefon. Ihre Reaktion machte mich traurig.
Nach einer Stunde rief sie mich an. Es tue ihr wahnsinnig leid, sagte
sie. Sie sei im größten Stress ihres Lebens, da sie das Weihnachtsbuch in drei
Tagen fertig haben müsse. Sie habe aber erst zwölf Seiten und 150 müssten es
mindestens sein. Sie sagte mir, dass sie intensiv Wikipedia nutzen würde. Dort
finde man eigentlich alles, was man brauche an Informationen. Das Gute sei,
dass Wikipedia in verschiedenen Sprachen verschiedene Artikel habe. Dadurch sei
der Fokus oft regional, sodass man dort vieles über die lokalen Weihnachtsbräuche
erfahren könnte. Der Google-Übersetzer tue dann das Nötige. Sie kopiere das
einfach und denke sich kleine fiktive Reisen zu den Orten aus, über die sie
schreibt. Alles in allem würde das Buch aber schon mindestens zu 97% aus
Wikipedia-Paraphrase bestehen. Ich wollte gerade erwidern, dass das etwas
problematisch sein könnte, da kam sie mir zuvor uns sagte hektisch: „Tschüs!
Ich melde mich, wenn ich fertig bin!“
Norma schien ihrem Ziel näher zu kommen. Sie hatte zwar noch
138 Seiten zu schreiben, aber ihre Stimme klang anders, befreiter. Sie war
gestresst und unfreundlich. Dennoch war es, als hätte sie gefunden, was sie
gesucht hatte. Ein Buch, das nur aus zusammengefassten Wikipediaartikeln
besteht, ist eine Zumutung, aber für Norma war es das, was sie zu leisten im Stande
war.
Heute, am 24. Dezember, sitze ich vor meinem Tannenbaum und halte Norma Zudreits weihnachtliche Kulturgeschichte in meinen Händen. Ich öffne das Buch und rieche an den frischen Seiten. Alte Schreiberling-Marotte, Bücher muss man mit allen Sinnen erfassen. Langsam gleiten die Seiten über meine Finger, das Papier ist rau. „Für Fabian“ steht vorne im Buch, 25,99 € kostet es beim örtlichen Buchladen. Ich überfliege das Buch und denke mir etwas, das ich besser nicht aufschreibe. Das Buch liegt jetzt vor dem Baum und ich gehe.
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