Herr Baus sah sich um. Gekachelte Fliesen, flackernde Neonröhren. Vor ihm eine Blutlache, die sich langsam auf die Abflußrinne in der Mitte des Raums zubewegte. Er war gefangen! Man wollte ihm an die Haut!
Jetzt war er doch wieder abgedriftet. Er saß beim Zahnarzt im Wartezimmer. Nur das mit der Neonröhre stimmte. Neben ihm saßen langweilige Menschen, eine analoge Digitaluhr hing an der Wand, sie klackerte jede Minute, wenn durch Wechsel der Metallplättchen eine neue Uhrzeit angezeigt wurde.
Er hatte große Angst vor dem Zahnarzt. Seine Vision war nicht die erste ihrer Art. Er traute Zahnärzten einfach nicht. Ihn irritierte außerdem, daß die aufgerufenen Patienten nicht mehr in das Wartezimmer zurückkehrten. Zu allem Überfluß hörte die Sprechstundenhilfe italienische Opernmusik mit ihren schillernden Ariensoli, in seinem Kopf diente das nur dazu, die Foltergeräusche zu überdecken, so wie bei der Mafia (folterte die Mafia – ja, er glaubte schon).
„Frau Taus!“ Die Sprechstundenhilfe sah sich suchend um. Eine korpulente Endzwanzigerin erhob sich von ihrem Sitz und stapfte auf die Tür zu. Herr Baus war bei dem Namen zusammengezuckt, weil er seinem so ähnlich war. Als er darüber nachdachte, legte sich in seinem Kopf endgültig ein Schalter um. Er sah sich im Wartezimmer um: Auffällig war, wie gewöhnlich die Leute aussahen. Sonst war doch immer jemand darunter, der irgendwie hervorstach. Das war heute eindeutig nicht der Fall. Herr Baus kam ein schrecklicher Verdacht. Er wandte sich an seinen Nebenmann: „Entschuldigung, wie ist ihr Name?“ „Wer will das wissen?“, fragte der. „Na, ich“, antwortete Herr Baus, „sonst würde ich ja nicht fragen.“ „Wer sind Sie denn?“ „Mein Name ist Dankmar Baus, ich bin Versicherungsmakler. Und Sie?“ „Ja, also ich bin Uwe Laun, meines Zeichens …“ „Laun? Sie heißen Laun?“ Etwas verärgert nickte Herr Laun mit dem Kopf. „Was ist denn mit meinem Namen?“ Statt zu antworten, sprang Herr Baus auf und ging wahllos auf eine Frau im Wartezimmer zu. Die Mitte-40jährige hatte blonde Strähnchen in den sonst graubraunen Haaren und trug ein bedrucktes rosafarbenes T-Shirt. Herr Baus beugte sich zu ihr herunter und sagte leise: „Entschuldigen Sie die Frage, aber kann es sein, daß wir uns kennen? Sind Sie mit Petra Bernhardt verwandt?“ Verdattert blickte ihn die Angesprochene an. „Da müssen Sie mich verwechseln, ich kenne keine Petra Bernhardt.“ Herr Baus machte eine kleine Kunstpause und tat, als denke er nach. „Ich bin mir aber sicher“, fuhr er fort, „daß ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe. Wie heißen Sie denn? Vielleicht komme ich über die Schiene drauf.“ Sie zögerte, bevor sie antwortete. „Ich heiße Lisa Baur, wie der Bauer, nur ohne E.“ Herr Baus blickte sie fassungslos an. „Baur? Ohne E? Oh Gott!“ Verständnislos sah sie ihn an. „Sie heißen Baur. Ich heiße Baus. Die Frau, die gerade aufgerufen wurde, hieß Taus. Und er da“ – er deutete auf Herrn Laun – „heißt Laun. Verstehen Sie: Alles sehr ähnliche Namen. Ich vermute, wenn wir jetzt noch weitere Leute hier im Raum fragen, wird das so weitergehen.“ Ihre Verständnislosigkeit war einer Mischung aus Ungläubigkeit und Neugier gewichen. „Und was bedeutet das jetzt?“, fragte sie ihn.
„Herr Maul?“ Ein Rentner mit Cordhose und beigefarbener Funktionsweste erhob sich und verließ den Raum. Herr Baus warf Frau Baur vielsagende Blicke zu. Dann stand er auf und setzte sich ganz nah an sie heran. „Haben Sie sich mal gefragt, warum bisher keiner der aufgerufenen Patienten hierher zurückgekehrt ist?“ „Na, weil es ein Wartezimmer ist …“ „Ja, aber normalerweise muß man doch noch seine Jacke holen oder noch mal auf das Rezept warten oder was weiß ich. Ich sitze hier schon eine halbe Stunde, und niemand ist bisher zurückgekehrt.“ „Was wollen Sie denn damit sagen?“, fragte sie ihn und sah ihn eindringlich an.
„Ich glaube, das ist hier gar kein richtiger Zahnarzt. Ich weiß nicht, was uns da hinten – er deutete in die Richtung, in der das Sprechzimmer lag – erwartet, aber bestimmt keine zahnärztliche Behandlung.“ Frau Baur sah blöd in die Richtung, in die er gerade gewiesen hatte. „Aber … Ich komme hier schon seit vielen Jahren hin. Es läuft eigentlich immer alles normal ab!“
„Ach ja? Wie erklären Sie sich dann das mit den Nachnamen?“
Eine Neonröhre begann zu flackern. Beide blickten erschrocken hoch.
„Das kann doch Zufall sein. Was hat denn das eine überhaupt mit dem anderen zu tun?“
Herr Baus blickte immer noch auf die zuckende Leuchte. „Das weiß ich auch nicht – noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.“
Er stapfte zum Empfangstresen und weiter Richtung Behandlungszimmer. „Halt, Sie dürfen da nicht rein!“, versuchte ihn die Sprechstundenhilfe aufzuhalten. Was gelang. Er drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an. „Warum reagieren Sie denn derart aufgebracht? Was verbergen Sie dahinter?“ Sie starrte ihn an, wußte nicht, was sie sagen sollte.
Da öffnete sich plötzlich die Tür. Plötzlich, aber langsam. Ein vollkommen durchschnittlich aussehender Mann streckte den Kopf heraus und sah Herrn Baus unvermittelt an. „Sie wollten doch reinkommen, oder?“ Jetzt war es an Herrn Baus, zu zögern. „Woher wissen Sie das? Und woher kennen Sie meinen Namen?“ Der andere antwortete nicht, sondern verschwand in dem Zimmer, das hinter der Tür lag. Herr Baus ging ihm hinterher.
Er gelangte in einen riesengroßen Raum, dessen Enden er nicht sehen konnte. Der Boden war mit Fliesen belegt, die so aussahen, als wären sie schon sehr oft gereinigt worden. Es hatte was von einer öffentlichen Toilette. Aber es roch nach Desinfektionsmittel, wie in einer Praxis. Rechts von ihm lag ein rätselhafter Schatten, und erst beim zweiten Hinsehen entdeckte er eine Reihe Käfige, die nebeneinanderstanden. Sie sahen aus wie Käfige aus einem Zirkus, in dem Raubtiere leben. Oder eigentlich erinnerten sie Herrn Baus an Benjamin Blümchen, es waren Käfige wie aus einem Kinderbuch. Er näherte sich ihnen, weil sie der einzige Bezugspunkt in dem ansonsten leeren Raum waren. Und erst jetzt entdeckte er, daß Menschen darin waren.
Im ersten Käfig war Barbara Schöneberger. Sie schaute deprimiert drein, naja, sie saß ja auch in einem Käfig. In dem Käfig daneben saß Jörg … Urbschat … Jörg Urbschat, Jörgi, wie sie ihn immer alle nannten! Das konnte doch nicht wahr sein, was machte Jörgi denn hier? Jörg, die alte Fleischfabrik, unfaßbar, daß man sich so noch mal wiedersah … „J-Jörg, was … was machst du hier?“ Aber Jörg sah ihn nur apathisch an. Aus dem Schatten des Käfigs trat nun auch noch Frau Baur. „Helfen Sie uns!“, flehte sie ihn an. Erschrocken wich Herr Baus einen Schritt zurück. Nun kam auch noch ein Zahnarzt aus dem Dunkel. Er sah jedenfalls so aus wie ein Zahnarzt, fast schon demonstrativ hatte er nicht nur typische Arztkleidung an, sondern auch die passenden Geräte in der Hand. Er starrte Frau Baur an. Dabei wies er immer wieder mit seiner Betäubungsspritze in ihre Richtung. Noch ehe Herr Baus etwas sagen konnte, schrie Frau Baur: „Er will mir die Organe entnehmen! Es war alles wahr, was Sie gesagt haben!“ Herr Baus erstarrte. Dann faßte er sich: „Frau Baur? Sie waren doch eben noch im Wartezimmer? Was geht hier vor?“ Er schritt weiter zum letzten Käfig, in dem … er selbst saß. Sein zweites Ich kauerte in der Ecke und schien zu schlafen.
Wo war er hier? Wieso waren all diese Leute hier? Und er selbst auch? Wo waren die anderen Patienten? Warum war der Raum so groß? Was war das alles?
Auf einmal hörte er eine Stimme. „Das sind alles berechtigte Fragen, die du da hast!“ Er erschrak. Wo war denn jetzt auch noch diese Stimme hergekommen? „Dankmar! Du kannst mich nicht sehen, nur hören! Also höre mir bitte zu!“
„Wer bist du? Gott?“ Herr Baus kam sich dumm vor, das zu fragen, aber er wußte langsam nicht mehr, was Realität war und was nicht.
„Nein, ich bin doch nicht Gott! Es ist aber letztlich auch wurst, wie du mich nennst.“
„Was willst du von mir?“
„Ja, also folgendes: Das klingt jetzt wahrscheinlich schwer zu glauben für dich, aber ich bin der Autor dieser Geschichte.“
„Wie? Was für eine Geschichte?“
„Na, diese Geschichte, in der du mitspielst. Ich habe sie ‚Herr Baus beim Zahnarzt‘ genannt. Gefällt sie dir?“
Herr Baus wußte nicht, was er sagen sollte. „Was soll das? Willst du mich verhohnepiepeln?“
„Lustiges Wort, ‚verhohnepiepeln‘, findest du nicht? Ich kenne niemanden, der das im Ernst verwendet, aber du hast es gerade gesagt. Weißt du, warum?“
„Nein, warum?“
„Weil ich geschrieben habe, daß du das sagen sollst. Du bist von mir geschaffen!“
„Also bist du doch Gott?“
„Nein, ich bin nicht … Na, von mir aus, wenn du es dann einfacher begreifst.“
Herr Baus begriff nichts, aber vielleicht würde sich ja Licht ins Dunkel bringen lassen.
„Was machen all die Leute in den Käfigen da?“
„Ja, paß auf, das ist so: Die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende. Du wolltest in den Raum gehen, aber was würde danach passieren? Ich hatte einfach keine gute Idee. Bzw. ich hatte drei Ideen, die ich aber alle wieder verworfen habe. Willst du sie hören?“
Herr Baus sah blöd zur Decke, wo die Stimme herzukommen schien. „Ich …“
„Ich erzähle es dir einfach. Also, Variante 1: Alles ist nur ein Spaß! Frau Baur sollte der Lockvogel sein, der dich hierher lockt. Eingefädelt wäre das alles von deinem alten Schulfreund Jörgi gewesen, der dich ja früher schon immer geprankt hat. Und Barbara Schöneberger moderiert die Sendung!“
„Ach, diese Sendung bei ARD meinen Sie? Wird die nicht von Guido Cantz …“
„Nein, dachte ich auch erst, seit 2022 von Barbara Schöneberger. Total doof, das weiß keiner. Aber auch so fand ich das als Ende irgendwie langweilig, weil es so ein klassischer Notausgang ist, wenn einem nichts Besseres einfällt. Also habe ich es verworfen.“
„Verstehe“, log Herr Baus.
„Nummer 2 wäre dann der Zahnarzt, der Organe entnimmt, so wie du es ja auch vermutet hattest. Bloß fand ich das nicht besonders lustig. Ist ja an sich sehr schockierend, wie soll man daraus eine lustige Story machen?“
„Ja, stimmt“, murmelte Herr Baus.
„Und die letzte Variante: Du hast alles nur geträumt. Dafür steht der dritte Käfig. Ist aber auch total lame, das ist ein noch schlimmerer Notausgang als Nummer 1.“
„Ah!“ Herr Baus wußte zwar nicht, auf welcher Bewußtseinsebene sich das alles abspielte, aber er verstand den Sinn hinter dem, was die Stimme sagte. „Aber warum sind denn die drei aus Variante eins nicht in einem Käfig?“ Er wunderte sich selbst über die Frage. „Wir fanden Frau Schöneberger so unangenehm, daß wir lieber zu dem Mörder-Zahnarzt wollten“, gab Frau Baur aus dem Käfig zurück. „Siehst du, wie unlustig das geworden wäre?“, kommentierte die Stimme.
„Und jetzt?“, fragte Herr Baus.
„Tja, Houston, wir haben ein Problem, würde ich sagen. Ich habe ja immer noch kein richtiges Ende, keine Pointe.“
„Vielleicht muß die Geschichte ja kein Ende haben? Vielleicht muß es keine Pointen mehr geben?“
Die Stimme zögerte. „Ja, vielleicht …“
Dann herrschte Stille.
„Hallo?“
Herr Baus schien jetzt allein zu sein. Auch die Käfige waren weg. Er drehte sich um und ging zur Tür.
Als er rauskam, hatte sich das halbe Wartezimmer vor der Tür versammelt. „Haben Sie die anderen Patienten gefunden? Was war denn da drin?“
Herr Baus sah in die Runde und räusperte sich. „Sie wurden für eine Pointe geopfert, aber damit ist jetzt Schluß.“ Damit drehte er sich um und ging entschlossenen Schrittes zur Tür.
Die Leute sahen ihm ratlos nach. So bekamen sie alle mit, wie er über eine unebene Stelle im Teppichboden stolperte und sich dermaßen auf die Fresse packte, das hast du noch nicht gesehen! Alle brachen in schallendes Gelächter aus. Auch eine Stimme, die aus der Decke zu kommen schien, lachte herzlich. Die Leute verstummten und sahen nach oben. Was war das für eine Stimme? „Harr harr, ‚vielleicht muß es ja keine Pointe mehr geben‘, was für ein Trottel, harr harr!“
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