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Weißenpfaff nachdenklich an seiner Werkbank |
Kein Mensch wusste damals, warum die Schelle so wichtig war. Man hat das so gelernt und weitergegeben.Mit der Schelle habe er eigentlich aber eigentlich gar nichts zu tun gehabt, denn sein Handwerk bestand darin, den Schellensturz zu fertigen. Dieser ist eine Art Miniaturbeil mit sage und schreibe zwölf unterschiedlichen Klingen, die dazu dienten, die kunstvollen Muster in die Schelle zu schlagen.
Hans‘ Beruf ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass man ihn am liebsten in das örtliche Heimatmuseum verfrachten möchte, um seine einzigartige Arbeitstechnik und das schöne Produkt seines Handwerks auf Dauer zu erhalten. Hans könnte sich ein Leben im Museum tatsächlich vorstellen. Dort gäbe es vielleicht endlich jemanden, der ihn pflegen könnte. Hans ist mit seinen 97 Jahren auf Rundum-Betreuung angewiesen, doch seine Kinder, Enkel und Urenkel wohnen längst schon in der großen Stadt, weit weg von Brüttingen. Hans lässt nicht locker, er fragt nach, ob wir ihn mitnehmen könnten, da er es sonst wahrscheinlich nicht mehr lange überstehen werde – er weint. Wir halten Abstand zu ihm, da wir mit unserem Portrait über seine Arbeit größtmögliche Sachlichkeit anstreben. Nachdem Hans erkennt, dass er mit unserer Hilfe nicht rechnen kann, fängt er sichtlich niedergeschlagen an, über seine Vergangenheit zu sprechen. Mit 15 Jahren, 1935, hat er seinen Beruf erlernt. Seine Eltern starben beide sehr früh, seine neun Geschwister sind alle „im Krieg geblieben“. Seine Frau Hannah kam vor inzwischen 34 Jahren bei diesem schrecklichen Unfall mit dem Mähdrescher ums Leben, seitdem wohnt er alleine auf dem alten Hof. Als vor 21 Jahren mit Herbert Kugelschmantz der letzte Schellenstürzer starb, ist auch Hans‘ Beruf endgültig überflüssig geworden. In einer für sein Alter unglaublichen Frequenz stellt er trotzdem noch Schellenstürze her. Da es aber keinen Abnehmer mehr gibt, steht inzwischen sein ganzer Hof mit den kunstvoll gefertigten Werkzeugen voll. „Es gibt keine Aufträge. Aber Schellenstürze sind mein Leben, deshalb mache ich das. Ich kann ja auch nichts anderes wie Schellenstürze bauen“, erzählt uns Hans. Gelegentlich mache er neu hergestellte Schellenstürze selbst kaputt, damit er sie wieder reparieren könne. Manchmal sortiert und verpackt er sie hübsch, ein anderes Mal baut er sie auseinander und anschließend wieder zusammen. Irgendwie müsse er sich neben dem Herstellen von Schellenstürzen ja beschäftigen, die Zeit totschlagen. Sein Hof liegt soweit außerhalb, dass so gut wie nie ein Mensch vorbeikommt. Eigentlich sei er gesprächig, sehr sogar. Doch wenn niemand da ist, könne er sich ja nicht unterhalten, stellt er betrübt lächelnd fest.
Das Leben auf meinem Hof ist ziemlich einsam. Deshalb zeichne ich manchmal Gesichter auf Papier. Mit denen kann ich dann angeregt reden. Leider antworten sie nie.Es ist seltsam anzusehen, mit welchem Ehrgeiz Hans trotz der Bedeutungslosigkeit seines Handwerks arbeitet. Jeden Tag, von früh bis spät. Zwei seiner Schellenstürze stehen im örtlichen Heimatmuseum, mehr bräuchte man laut Museumsleitung dort aber nicht, um das Handwerk zu illustrieren. Die hunderte anderen liegen einfach so rum. Jeder einzelne von immensem Wert, wenn man die Arbeitszeit und das edle Material, das Hans verwendet, betrachtet.
Hans dachte einige Zeit darüber nach, ob er mit seinen Schellenstürzen selbst in die Schellenproduktion einsteigen sollte. Dann würden seine Werkzeuge endlich wieder genutzt. Doch er weiß, dass er das eigentlich nicht darf. „Wie ich noch ein kleiner Bub war“, erzählt uns der ob seiner Kraftlosigkeit inzwischen auf dem Boden liegende Hans, „habe ich mal angefangen, eine Schelle zu schnitzen. Als der Vater reinkam, oje oje, hat er mich verprügelt, dass ich einen Monat nicht mehr stehen, laufen oder sitzen konnte.“
Die Zeit, in der Hans groß wurde, gibt es nicht mehr. Dass die Herstellung einer Holzplatte den Dorfzusammenhalt bestimmte, scheint kaum nachvollziehbar, doch für Hans gelten diese Regeln noch heute. Er würde niemals eine Schelle selbst anfertigen. Doch er weiß auch, dass ein Stück Holz an einer Pferdekutsche keine rechtliche Bedeutung mehr hat. „Eigentlich ist es doch ganz gleich, was ich noch mache. Aber vielleicht können Reportagen wie Ihre, Berufe wie den des Schellensturzschleifers vor dem Vergessen bewahren oder vielleicht sogar wiederbeleben. Zumindest die Arbeitstechni…“
Ortswechsel: Wir verlassen Hans Weißenpfaff, noch während er erzählt. Wir fragen uns, ob er es vom Boden wieder alleine hoch schafft und machen uns auf zu seinem in Frankfurt lebenden Enkel Marcel Weißenpfaff, der als sein Vormund fungiert. Mit einem mindestens genauso herzlichen Lächeln wie sein Großvater begrüßt uns der 35-jährige Makler vom Typ „Do-it-Yourself“ in seinem Büro. „Wenn mein Opa irgendwann tot ist, kommt ein Spa-Hotel in den alten Hof. Wer soll denn bitte noch was mit so komischen Werkzeugen anfangen. Neulich hat mir Opa wieder mal 30 von seinen Schellenstürzen geschickt. Die stehen jetzt bei mir rum und landen, so traurig das auch klingen mag, am Ende wieder auf dem Sperrmüll. Ich darf laut Opa damit ja auch ausdrücklich nichts machen, da ich ja kein Schellenstürzer bin. So grausam das auch ist, aber das Beste für meinen Opa ist es wohl, wenn er so langsam seine Fahrkarte für den Himmel kauft. Nicht falsch verstehen bitte.“
Erneuter Ortswechsel: Wir sind vom jungen Weißenpfaff angeekelt und gehen. Eine Woche später suchen wir Hans erneut auf. Er freut sich über uns. Er hat wieder diesen „Nehmt-mich-mit-Blick“ in den Augen. Er isst gerade Mittag und bietet uns von seiner für die Region typischen in Wein eingelegten süßen Rinderlungensülze an und erklärt uns schließlich alle seine Arbeitstechniken. Mit der „Klingwuchte“ müsse man da ganz tief ins Buchenholz reingehen, um den Griff des Schellensturzes richtig „auszukanten“. Sein Fachwissen ist gigantisch und seine Augen strahlen, wenn er erzählt. „Holz arbeitet. Immer!“ Deswegen müsse man „Spiel“ für die Metallaufsätze lassen. Sonst, so Weißenpfaff, könnten sie sich während der Arbeit lösen und das wäre fatal für den Schellenstürzer. Wir sind fasziniert, abermals fasziniert, von Weißenpfaff, dem würdevollen Handwerker.
Man muss das Holz verstehen, man muss mit dem Holz zusammenarbeiten. Nur so kann man das Holz zum sprechen bringen. Aber Obacht: Auch zu geschwätziges Holz macht Probleme. Es ist die berühmte goldene Mitte, die man hier finden muss.Dieses letzte Treffen zwischen diesem hilflosen alten Mann und uns hinterlässt bei allen eine unangenehme Ratlosigkeit. Wenn er stirbt, dann war es das mit den Schellen und den Schellenstürzen. Das Wissen geht verloren, so wie auch der Mensch einfach fort ist. Nicht nur wir, nein, auch Hans ist ratlos.
Wir verabschieden uns von ihm und wollen gerade das Haus verlassen, da ruft er uns nochmal zu sich. Er nimmt unsere Hände und blickt uns an. „Wisst ihr“, spricht er zu uns, „mein Wissen wird niemals verloren gehen. Das garantiere ich euch.“ Wir nicken lächelnd, gehen aus der Tür und flüstern uns gegenseitig zu, dass das Wissen natürlich verloren geht. Sehr schnell sogar.
Wir alle, die an dieser Reportage beteiligt waren, sind uns nicht so recht im Klaren darüber, was wir über all das denken sollen. Wir suchen nach passenden Worten. Hans, so kommen wir schließlich überein, könne man wohl am besten mit einem Baum verglichen werden. Einem sehr alten Baum, den man vielleicht schon längst hätte fällen sollen. Wir revidieren diesen Gedanken. Alte Bäume sollte man stehen lassen, bis sie schließlich von selbst umfallen. Allein die Frage bleibt, ob es wert ist, Wissen von Bäumen, die ihr Leben lang als Handwerker gearbeitet haben, zu erhalten. Das wissen wir nicht.
Von Rüdiger Fahrenschon, Magdalena Stürf und Agnieszka Hofmanowa
Kommentare
Davon abgesehen: Geiles Design, fragwürdige Story!!!
@Marionetten Regierung: Das ist ja ein lustiger Zufall, dass gerade Sie auf unsere Reportage gestoßen sind. Herr Weißenpfaff hat tatsächlich mehrfach von der alten Brüttinger Familie "Regierung" gesprochen. Besitzen Sie einen Schellensturz? Herr Weißenpfaff hat uns 40 mitgegeben, die werden wir zeitnah entsorgen. Falls Sie einen haben wollen, schreiben Sie uns einfach.
Beste Grüße!
Meine Adresse ist:
Reichsstraße 88
02409 Staucha
Vielen Dank!
@Bernhardina Meusel: Brüttingen liegt in Unterfranken.
wir sind eine hochangesehene Klinik, die sich darauf spezialisiert hat, alte Menschen in den Tod zu führen...äähh, zu begleiten. Sagen Sie uns doch die Adresse und Telefonnummer von Herrn Weißenpfaff, wir würden ihn gerne in den Tod führen...äähh begleiten. Da wir eine private Klinik sind, müssten wir aber einen angemessenen Preis berechnen. Der Preis liegt zufällig genau in der Höhe, die sein Grundstück hat. Der Deal sähe also so aus: Wir bekommen das Grundstück übereignet, dafür kann Herr Weißenpfaff bei uns im 12-Betten-Zimmer wohnen.
Vielen Dank und mit freundlichen Grüßen,
i. A. Frank Stulgenger
Mit freundliche Grüßen
Die Redaktion Der KREM
Zur Reportage: Was geschieht zurzeit mit Herrn Weißenpfaff? Wie geht es ihm? Wird es vielleicht nochmal einen solchen Artikel geben? Man könnte ja eine Reihe von Portraits über aussterbende Berufe machen.
Liebe Grüße
natürlich haben wir die Kommentare immer im Blick. Solange hier aber nicht gegen Gesetze verstoßen wird, sehen wir keinen Grund, zu handeln. Herrn Stulgengers Kommentar wird durch unseren Justitiar geprüft. Wir setzen bei Löschungen hohe Maßstäbe. Im Zweifel geht die freie Meinungsäußerung vor.
Erzähler: Die drei verschwanden in der gemütlichen Sitzecke, tranken Kaffee und unterhielten sich stundenlang über dies und das.
Bezüglich der Abbildung von Herrn Weißenpfaff möchte ich noch kurz eine Erklärung abgeben. Es ist natürlich keine Fotografie, das sollte allen klar geworden sein. Wir arbeiten hier nur mit Zeichnungen und Gemälden, da wir uns leider keine Kamera leisten können. Das klingt komisch, ist jedoch schnell erklärt. Der KREM existiert in einem anderem wirtschaftlichen Kontext als der Rest der Welt. Wir leben quasi noch im Mittelalter, wo der Wert von Materialien deutlich höher ist als der Wert von Arbeitszeit. Einen Graphiker oder Maler zu beschäftigen ist deshalb für uns viel billiger als die Anschaffung einer Kamera. Da der Rest der Welt wie gesagt im hier und jetzt parallel zu uns lebt, ist das schwer verständlich für Nicht-KREM-Mitarbeiter. Wir bitten Sie, das einfach hinzunehmen.
Falls Sie eine Idee haben, wie Sie uns aus der Parallelwelt mit dem beschriebenen wirtschaftlichen Kontext herauslösen können: Ab damit in die Kommentare!
Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende!
Danke! Geld nehmt ihr dann einfach aus der Kaffeekasse :-P
Jetzt aber husch husch, sonst ist unser Whistleblower weg. Bringt dem auch mal noch was mit, vielleicht so eine Herzförmige Pralinenbox, der macht das schließlich ohne Gegenleistung und steht seit ein paar Stunden da rum.
Stop! You can not tell that publicly on the internet, you idiots. this is confidential information!
Friedemann and Lila, I have to go back to Uzbekistan tonight. Be careful with the information.
FAREWELL
BTW danke, Lila und Friedemännchen für den Großeinkauf für mich. Ich war echt zu faul, nochmal selbst loszugehen :-)
PS: Christoph, entlasse diese Vollidioten.
P.S. Liebe Chefetage, ihr solltet sie trotzdem entlassen, die kommen immer mit einer Fahne zur Arbeit.
Christoph, die dachten sich schon, dass es mal so weit kommt.
Ja, also, kommen Sie schnell! Was? Ernsthaft? Aber ... Na gut. Ja, bis gleich!
[legt auf]
Christoph, wir müssen Rüdiger zum Waldrand tragen, der meinte, die kommen hier nicht rein.
Sind ja auch nur 20 Meter.
[Schreiend] OH NEIN! WO SIND MEINE BEINE? HABEN SIE MEINE BEINE AMPUTIERT? NEEEIIIN, DIE BRAUCHE ICH DOCH NOCH!!!! WO SIND MEINE BEINE? Ach da sind sie, unter der Decke. Puh, ich dachte schon, sie hätten sie amputiert. Das war aber aufregend für mich...
Außerdem sollten Sie mal mit Schwester Marie reden, die hat mir vorhin gesagt, dass niemand weiß, was ich habe. Die hat mich angelogen! Entlassen Sie sie!
Zur Bauchnabel-Gehirn-Verbindung: In der Tat hatten Sie eine solche Verbindung. Da aber auch dieses Gewebestück vollständig "verkaramellisiert" ist (sie kennen den Begriff), haben wir ihn auch rausnehmen müssen. Bei Delphinen sorgt diese Verbindung dafür, dass sie so freundlich aussehen. Diese Verbindung steht nämlich unter Druck und zieht das Gehirn etwas nach hinten, sodass auch das Gesicht gestrafft wird -> der Delphin lächelt. Wie und ob das auch bei Ihnen auf diese Weise gewirkt hat, wird sich noch zeigen.
Wie meine Zukunft beim KREM aussieht, kann ich aber leider nicht sagen. Ich bin ja jetzt ein Zombie, ein Wasserdummy, eine große Puppe. Ich will nicht, dass die Qualität des KREMs unter meinem Zustand leidet. Vielleicht sollte die ganze Redaktion abstimmen, ob sie mich noch als Vize-Chef will. Falls ich weitermachen sollte, würde ich natürlich alles geben (im Rahmen meines komischen Zustandes), falls ihr mich nicht mehr wollt, würde ich einen Nachfolger bestimmen.
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