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Posts mit dem Label "Geschichten" werden angezeigt.

Herr Baus beim Zahnarzt

  Herr Baus sah sich um. Gekachelte Fliesen, flackernde Neonröhren. Vor ihm eine Blutlache, die sich langsam auf die Abflußrinne in der Mitte des Raums zubewegte. Er war gefangen! Man wollte ihm an die Haut! Jetzt war er doch wieder abgedriftet. Er saß beim Zahnarzt im Wartezimmer. Nur das mit der Neonröhre stimmte. Neben ihm saßen langweilige Menschen, eine analoge Digitaluhr hing an der Wand, sie klackerte jede Minute, wenn durch Wechsel der Metallplättchen eine neue Uhrzeit angezeigt wurde. Er hatte große Angst vor dem Zahnarzt. Seine Vision war nicht die erste ihrer Art. Er traute Zahnärzten einfach nicht. Ihn irritierte außerdem, daß die aufgerufenen Patienten nicht mehr in das Wartezimmer zurückkehrten. Zu allem Überfluß hörte die Sprechstundenhilfe italienische Opernmusik mit ihren schillernden Ariensoli, in seinem Kopf diente das nur dazu, die Foltergeräusche zu überdecken, so wie bei der Mafia (folterte die Mafia – ja, er glaubte schon). „Frau Taus!“ Die Sprechstun...

Manchmal war's so

Die Nachmittagssonne schien in den Raum. Der alte Großvater saß mit seiner Tochter und seinen Enkeln am Tisch.   „Daniela, weißt du noch, wie die Frau Blähiger damals so eine Tochter hatte?“ „Ja, natürlich.“ „Die ist ja dann weggegangen … nach Australien glaube ich, die hat dann irgendwas mit Pharmazie oder so studiert, auf jeden Fall ist die dann wiedergekommen. Jetzt arbeitet die ja in so einer Apotheke am Papierplatz.“ „Ich weiß, ich bin da manchmal.“ „Ach so.“ „Das habe ich dir aber auch schon erzählt.“ „Also wenn man schon alt ist, kann man sich halt nicht alles merken. Ich bin da nämlich neulich vorbeigegangen und habe die da drinnen gesehen und dann bin ich ganz schnell weggegangen, weil die mich ja kennt.“ „Und warum?“ „Mit ihren Eltern sind wir ja früher öfter weggefahren, man kennt sich halt. Aber wenn ich da rein gegangen wäre, dann hätte die bestimmt so Sachen gefragt, das wollte ich nicht.“ „Hast du eigentlich den Kuchen selber gemacht?“ „Na aber!...

Ritt ins Blau | „Weihnachten – eine Kulturgeschichte“ – Beobachtungen

  Ein Jahr ist es her, dass meine gute Freundin Norma und ich zusammen in unserem Lieblings-Weinlokal saßen. Wir tranken einen spritzigen Grauburgunder, aßen Grissini und sprachen über dies und jenes. Es war eine entspannte Stimmung. Irgendwann begannen wir, über unsere Arbeit zu reden. Ich erzählte von einem aktuellen Essay-Band-Projekt mit dem Arbeitstitel „Liebesmensch“, während sie über ihre Ideenlosigkeit klagte. Sie habe einfach keinen Einfall für das Buchprojekt, das sie seit Wochen plane. In Anbetracht des Zeitpunktes unseres Treffens, es war Mitte Dezember, schlug ich ihr vor, etwas über Weihnachten zu schreiben. Keine Sekunde verging, da rief sie: „Das mache ich, Fabian!“ Sie hatte sofort Ideen zum Buch. Durchs Land fahren wolle sie, die Menschen in verschiedenen Regionen und ihre Traditionen portraitieren. Wir bestellten einen Champagner und prosteten einander zu auf diese herrliche Idee. „Ein Jahr Zeit habe ich, nächstes Weihnachten soll das Buch erschienen“, sagte sie....

Die Geschichte von Winseln an der Stuthe

  Das schöne Winseln an der Stuthe – keine 15 Autominuten von Rotzbach an der Lerch entfernt und im bezaubernden Schwalmachtal gelegen, besticht es durch eine barocke Dorfkirche mit einer von nur noch drei erhaltenen Bontempi-Rhythmus-Orgeln. Der Marktplatz wird gesäumt von einer drei Meter hohen Hecke, so daß er nicht betreten werden kann und daher immer noch gut erhalten ist. Daß die Stadt ihre Einzigartigkeit bewahrt hat, liegt nur am Kompetenzstreit zweier Nationalsozialisten. Um das zu verstehen, springen wir ins Jahr 1943, am 5. Oktober, als zwei Männer im Rathaus an die Tür zum Arbeitszimmer des Bürgermeisters Hertwig Ortlieb klopften. „Herein!“, brummte Ortlieb. Zwei Männer in brauner Uniform traten herein, ein junger und ein älterer. Der junge rief beim Eintreten: „HEITLER!“ Ortlieb, Bürgermeister der 200-Seelen-Gemeinde Winseln an der Stuthe, hatte ihn nicht verstanden. „wie bitte?“, rief er dem jungen Mann zu. Dieser rief zurück: „HEIEL HITTLERR!“ „Mensch, ...