Verehrte Leserschaft,
vergangene Woche ist einer
meiner besten Freunde verstorben. Ich bin tiefer Trauer. Mehr noch bin ich aber
tiefer Dankbarkeit und größter Freude. Denn wird mir jetzt erst klar, daß das,
was ich mit ihm verloren habe, durch nichts zu ersetzen ist. Wer empfände
nun bei einer solchen Erkenntnis über die Qualität eines Freundes nicht Glück,
ja geradezu Heiterkeit? Ähnlich wie bei Ordham Schulze, von dem ich an dieser
Stelle schon schrieb, prägt mich das Werk meines verstorbenen Freundes in
vielerlei Hinsicht.
Als Szuszej Klajderszrank
1909 in Zdrowa Liw geboren wurde, war das Gefüge Europas noch tief im 19.
Jahrhundert verhaftet. Klajderszrank aber, der einer oskeischen Familie
entstammte (im Elternhaus wurde an erster Stelle òzekyrsz, dann erst polnisch
gesprochen), fiel sofort durch seine reichlichen Begabungen auf. Er schrieb, er
malte, er las und er vergaß wieder. Denn er litt schon seit frühester Jugend an
Sygnakiniose, einer Krankheit, bei der das Kurzzeitgedächtnis regelmäßig ausfällt.
Einer äußerst seltenen und heute sehr leicht zu behandelnden Krankheit, damals
jedoch noch nicht therapierbar und sehr belastend. Das aber hinderte ihn nicht
daran, 1929 ein Studium der Linguistik und Vergleichswissenschaft zu beginnen.
Erst jetzt erlernte er die deutsche Sprache. 1939 konnte er gerade noch die
Doktorwürde erlangen, er verfasste seine Arbeit über die vermeintliche
Gegenüberstellung der mitteldeutschen Volkssage des Giddelbuckers, musste
dann jedoch flüchten und gelangte über England, Barcelona, Portugal, Helsinki, Paris und
Barcelona in die Vereinigten Staaten. Er amerikanisierte seinen Namen zu Dwayne
McGillian und versuchte eine Anstellung an der Universität zu erlangen, was ihm
jedoch aufgrund seiner ausländischen Herkunft vorerst versagt blieb. In jener
Zeit begann er sich auch künstlerisch zu betätigen. Seine damals entstandenen
Gedichtbände sind heute Pflichtlektüre in jedem Seminar zur Exilliteratur,
besonders aber sein Drama Jonas! An den Teppich bitte und die
bösartig-satirische und messerscharf-analytische Essayreihe Der Blödelkönig
ist da – Wer Ihn Geholt? demaskiert auf raffinierte Weise bestehende Zustände – so viel Anerkennung er auch heute von führenden Linguisten bekommt, damals, in
den ausgehenden 40er Jahren, wurden dem heimatlosen Osteuropäer unendlich viele
Steine in den Weg gelegt. All sein wissenschaftliches Arbeiten geschah im
Verborgenen – im Jahre 1957 jedoch kam niemand mehr an ihm vorbei. Sein
Grundlagenwerk Die verkleinerte Methode schlug in der Wissenschaftswelt wie
eine Bombe ein. Die heute praktisch jeder linguistischen Arbeit
zugrundeliegende Klajderszrank-Dichotomie (im anglophonen Sprachraum auch als
McGillian exchange bekannt) wird in diesem Werk auf 408 Seiten ausgeführt. Jene
Arbeit verschaffte ihm einen großen Prestigegewinn, er bekam einen Ruf an die
Broddenby University und auch an der Gleenchester University wollte man ihn
verpflichten. Doch zu diesem Zeitpunkt stand für ihn schon längst fest, daß er
der Wissenschaftswelt den Rücken kehren würde. Er wollte Prosa schreiben, sich
ganz der Kunst hingeben, er begann zu malen. Seine Frühwerke wurden
wegbereitend für den in den 50er Jahren aufkommenden realistischen Kubismus,
vor allem sein Painting #04 gilt als radikalste Ausprägung jenes Stils. Er
entwickelte eigens für seine spezielle Maltechnik Pinsel mit Borsten aus Stein.
Sein an die mittelalterlichen Totentänze angelehntes Werk Glimmby #008, welches er auf einer 207m langen und 4cm hohen Leinwand malte, wechselte 1999 für eine knappe Million Dollar im Auktionshaus Carry in New York den Besitzer. Hierüber konnte Klajderszrank im hohen Alter jedoch nur lachen. „Wo soll man denn ein über 200 Meter langes Bild hinhängen?“, fragte er mich am Telefon. „Tja, nirgendwohin! Diese Hunde hängen das nirgendwo hin. Aber es ist viel zu lang“, versicherte er mir mit einer Altersgelassenheit, die ihresgleichen suchte.
Meine Steinborstenpinsel sind völlig unbrauchbar.
Sein an die mittelalterlichen Totentänze angelehntes Werk Glimmby #008, welches er auf einer 207m langen und 4cm hohen Leinwand malte, wechselte 1999 für eine knappe Million Dollar im Auktionshaus Carry in New York den Besitzer. Hierüber konnte Klajderszrank im hohen Alter jedoch nur lachen. „Wo soll man denn ein über 200 Meter langes Bild hinhängen?“, fragte er mich am Telefon. „Tja, nirgendwohin! Diese Hunde hängen das nirgendwo hin. Aber es ist viel zu lang“, versicherte er mir mit einer Altersgelassenheit, die ihresgleichen suchte.
Wie die Menschen sich an mich erinnern sollen, wenn ich einmal nicht mehr sein werde? Sie sollen mich als Szuszej Klajderszrank in Erinnerung halten.
Doch auch von der bildenden Kunst verabschiedete sich der noch immer in
den USA Fremde, er wandte sich fortan nur noch der Literatur zu. 1967 erzählte
mir Klajderszrank erstmals von seinem großen schriftstellerischen Vorhaben, das
ihn bis zu seinem Tod beschäftigte und ihm ab 1967 kontinuierlich immer
unbekannter werden ließ. In den ausgehenden 60er Jahren galt er als Intellektueller,
ja als Genie, doch schon Mitte der 70er Jahre wusste kaum noch jemand, wer er
war. Man könnte sein letztes großes Vorhaben als genial bezeichnen, doch bin
ich persönlich hin- und hergerissen.
Auf der Grundlage eines früh verfassten Aufsatzes, den er noch vor seiner
Flucht aus Europa veröffentlicht hatte, begann er seinen „unendlich
realistischen Negativ-Roman“ zu verfassen. Diese Konzeption von Literatur, die
in besagtem Aufsatz Manifestation gefunden hatte, ist zu komplex, um sie hier
in ihrer gesamten Form zu würdigen. Doch versuche ich, das wesentliche
herauszustellen: Durch das Beschreiben all derjenigen Dinge, die nicht der Fall
sind, soll die Geschichte durch das „Nichterzählte langsam aber konsequent
Gestalt annehmen.“ Klajderszrank glaubte, daß durch diese Literatur des Auslassens
eine "unvergleichliche Genauigkeit" geschaffen würde. Doch er verrannte sich. Er
schrieb und schrieb und fand keine Ende. Er beschrieb alles, was nicht der Fall
war. Und das war annähernd alles. Leider war Klajderszrank von der
vermeintlichen Genialität seiner Theorie so sehr überzeugt, dass niemand
imstande war, ihn von jenem Monsterprojekt abzuhalten. In Intervallen von 10
Jahren rief ich ihn an und fragte, wie weit er mit seinem Roman sei, worauf er
meistens meinte, dass er mehr Zeit bräuchte. 2007, kurz vor seinem 98.
Geburtstag erkundigte ich mich erneut und er schrieb und schrieb weiter.
Vor zwei Wochen dann rief er
mich an und sagte, daß er nicht mehr könne. Er hätte inzwischen über 1,2
Millionen Seiten handschriftlich zu Papier gebracht und noch nicht einmal die
erste Szene auch nur im Ansatz fertig geschrieben – An diesem Tag hatte ich mit
einem gebrochenen Mann gesprochen. Ich versuchte ihn aufzuheitern, aber er
wusste wohl schon, dass er sterben würde. Er verabschiedete sich an diesem
Abend besonders herzlich, dann ging er von uns.
Nachdem sein New Yorker
Appartement leergeräumt und sämtliche 1,2 Millionen Seiten kurz und schmerzlos
entsorgt wurden, fand er die letzte Ruhe auf dem kleinen Friedhof in Zdrowa
Liw. Seine Heimatstadt hatte er seit 1937 nicht mehr besucht.
Dwayne oder aber Szuszej,
wie du einmal hießest, lebe wohl. Lebe wohl!
Es ist dieser für Szuszej frisch gepflanzte Quittenbaum,
der einen Blick auf seinen Grabstein unmöglich macht.
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