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Der Vorabend der Tiere

 

Sandro, der Eichelhäher, war entsetzt: Seine Frau hatte ihn betrogen mit Sandro, einem anderen Eichelhäher! Leider hießen alle Männer Sandro, denn Namen dienen Eichelhähern nicht zur Unter­scheidung, sondern als schlichte Anredemöglichkeit. Er hatte sie auf frischer Tat ertappt. Kaum am Astloch angekommen, machte er auf dem Absatz kehrt und flog, noch halb im Schock, auf den nächstgelegenen Ast. Seine Frau Nicole (auch hier das gleiche Spiel mit den Namen) kam ihm hinterhergeflogen. „Sandro … Du mußt es verstehen … Er hat einfach ein prächtigeres Gefieder …“ Sandro drehte sich demonstrativ weg. „Nicole hatte recht. Ich hätte gleich einen Bogen um dich machen sollen.“ Auf Nicoles Miene zeigte sich Enttäuschung und ein bißchen Wut. „Mann, Sandro, versteh mich doch. Mensch, ich brauche doch gesunden Nachwuchs!“ - „Ja, geh doch zu deinem tollen Sandro, mit mir Krüppel brauchst du dich nicht abgeben.“ Er machte sich flugbereit. Heiser krächzte sie: „Ich lieb' dich immer noch.“ Er hielt inne, blickte etwas zur Seite, dann breitete er die Flügel aus und flog davon. Nicole blickte ihm lange nach, in ihren Augen sammelten sich Tränen.

 „OK, stop mal kurz!“, sagte Flori. Er war bei der GETOFI (Gesellschaft für Tonfilm) zuständig für die Vorabendschiene bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Diese kauften gern Produktionen, die emotionale, aber nicht herausfordernde Unterhaltung boten.

Sein Gegenüber, Tobi, sah von seinem Tablet auf. Er arbeitete als freier Mitarbeiter für die GETOFI. Es hatte schon schöne Kollabos gegeben, wie Flori das nannte, und stets zur Zufriedenheit der Auftragnehmer.

„Was’n?“, fragte er jetzt.

„Also erst mal geile Idee mit den Tieren und so“, begann Flori das Gespräch. „Macht auch irgendwie voll Sinn mit dem Gefieder, ich denke, da kann man die Leute mit abholen.“

„Ja, geil, oder?“, stimmte jetzt auch Tobi ein.

„Ja, voll. Nur ich habe da noch so ein paar Fragezeichen einfach. Also zum Beispiel, mit diesen Vornamen …“

„Ja? Passt doch voll, oder?“

„Ey, echt mega! Nur halt, das ist voll verwirrend irgendwie, wenn die alle so heißen jetzt.“

„Du meinst, das mit dem, dass die alle gleich heißen?“

„Ja, ich mein, ganz ehrlich, das checkt doch keiner! Oder willst du da die ganze Zeit einen Voice-Over reinknallen?“

„Wär doch mal geil, so ein Voice-Over? Wie früher so diese Märchenkassetten, mit diesem Erzähler, hier, wie hieß der noch?“

„Äh … Na, hier. Warte.“ Flori gab etwas in den Computer ein. „Ah … Hans Paetsch!“

„Ja, genau. So in der Art, das holt die doch voll ab, die Leute!“

„Aber ein Erzähler in einer Soap Opera? Das grätscht voll ins Tempo rein. Also da feilen wir noch dran. Aber sonst echt super geil!“

„OK, ich lese mal weiter, oder?“

Flori hatte sich schon wieder hinter den Bildschirm gekauert und nickte ihm zu.

Im Kaninchenbau war gerade WG-Versammlung. Einer der Bewohner, Tim, stellte ein junges, weibliches Kaninchen vor. „Darf ich vorstellen: Das ist Johanna. Sie studiert Management an der FH Rüsselsheim und absolviert gerade ein Praktikum bei einem Autozulieferer. Für diese Zeit wird sie bei uns wohnen.“ Kai und Hannes, die anderen männlichen WG-Insassen, nickten ihr anerken­nend zu. Caro, die letzte im Bunde, atmete auf: „Na, dann bin ich ja nicht mehr allein hier in dieser Männer-Bude! Endlich zieht hier ein wenig weiblicher Geist ein!“ Johanna entgegnete: „Hi ihr, ist echt voll cool, dass das so schnell geklappt hat mit dem Zimmer! Is‘ ja echt super schwierig, hier ne Wohnung zu finden! Und dann so ‘ne geile Lage!“ Kai entschloss sich, auch was zu sagen: „Also, wenn ich dir mal die Stadt zeigen soll oder so, brauchst du es nur zu sagen!“ Hannes schloss sich an: „Du musst unbedingt unseren Lieblings-Italiener kennenlernen!“ Caro lächelte: „Hey, voll nett von euch, Jungs, aber ich glaube, jetzt brauche ich erst mal ‘ne frische Dusche!“

„OK, warte mal. Jetzt muss ich doch mal reingrätschen.“

„Klar, was denn?“

„Also, an der Stelle dann schon mal die Frage, warum sind das Tiere?“

„Naja gut, die Frage könnte man ja immer stellen.“

„Wie?“

„Na … egal. Also wir dachten, dass das wie so ne Fabel funktionieren könnte halt.“

„Wie ne Fabel?“

„Ja, da haben die Tiere doch alle so bestimmte Charaktereigenschaften.“

„Und was für Charaktereigenschaften hat jetzt quasi so nen Kaninchen?“

„Ja, gut … gesellig … oder so.“

„Gesellig?“

„Ja, gut. Das müsste man dann noch mal genauer … Aber die eigentliche Idee dahinter ist ja schon auch ein Stück weit so ein Augenzwinkern.“

„Wieso?“

„Naja, dass Tiere sich so verhalten halt.“

„Das ist aber doch nen bißchen viel verlangt vom Zuschauer, oder bin ich jetzt gerade zu kraß?“

„Aber die Handlung ist doch super simpel. Und wer will, kann noch ne Message dahinter mitnehmen.“

„Was für ne Message? Daß wir das Genres aufs Korn nehmen, indem wir Tiere nehmen statt Menschen?“

„Ja, voll gut, oder?“

„Mega! Lies weiter!“

Ingo, die Ratte, saß in seiner Lieblingsecke und hörte Jefferson Airplane. Den Unterarm hatte er sich abgebunden. Gerade war er dabei, das Heroin in die Spritze zu ziehen, als er am Eingang des Baus Geräusche hörte. Hastig warf er die Spritze beiseite und versuchte, den Arm loszubinden, doch es war zu spät. Kazimiera, seine Frau, kam herein. Als sie ihn sah, begann sie zu weinen. „Hey, Kasi, Schatz, hör auf zu weinen ...“ Kazimiera versuchte, aufzuhören, aber es funktionierte nicht. „Du hast versprochen! Was ich soll machen? Jeden Tag ich weiß nicht, ob du bist tot!“ - „Kasi, Schatz, ich hör auf damit, wirklich! Ich mach 'ne Therapie, gleich morgen!“ „Das du sagst jedes Mal, aber nie du machst!“ Weinend stürmte Kazimiera aus dem Bau. Mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Trauer sah Ingo ihr nach, bevor er sich dazu entschloss, jetzt doch noch mal Heroin zu nehmen.

„Boah, das‘ aber kraß jetzt. Da seh ich den Vorabend echt in Gefahr. Also versteh mich nicht falsch, aber das ist halt echt kraß!“

„Aber in jeder Soap gibt es doch do nen Drogi! Kommt immer auf die Inszenierung an!“

 „Schon, gut, darf halt nicht zu kraß sein.“

 „Ja, klar, aber mit der Musik und so weiter, da wissen die Leute schon bescheid, dann reicht schon der abgebundene Arm und wenn er noch so Ringe unter den Augen hat.“

 „Hm … Muß ich halt rücksprechen mit Harald. Der macht Daumen hoch oder runter.“

 „Ja, klar. Mußt du ja eh immer. Aber das Ding hat voll Potential. Ich hab noch mehr characters in Planung.“

„Was denn so?“

„Ne pädophile Ameise, dann so nen Regenwurm-Greis, der voll die junge Partnerin heiratet, und eine lesbische Libelle.“

„Ja, voll gern, wegen mir auf jeden Fall, muß ich halt nur mit Harald rücksprechen.“

„Und ich hab mir auch schon überlegt, wie die weiteren developments sind so in den einzelnen Storys.“

„Ja, echt geil. Reden wir dann drüber, ne? Ich geh erst mal zum Cheffe.“

„Ja, nee, klar. Sag einfach Bescheid.“

„Alles klar. Dann schon mal schönes Wochenende!“

„Es ist ja erst Montag, ich muß noch bis Freitag arbeiten.“

„Ja, ach so. Aber falls wir uns nicht mehr hören.“

„Ach so, ja, stimmt. Dann dir auch ein schönes Wochenende!“

„Danke!“

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