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Güşbeşet’s Dream. Kapitel 29: Fischfang und Leistungssport

Vermutlich klingt das total bescheuert, aber einmal alle zwei Wochen fährt mein Vater in die Wüste, um dort Gymnastikbälle hinzubringen. Und das Merkwürdigste: Er verdient damit auch noch Geld. Ich schwöre, es ist so! Mein Vater macht das seit 40 Jahren. Früher war es so, dass der Ort, wo er die Gymnastikbälle hinbringt, nicht in der Wüste lag, sondern mitten im Grasland, am Xürqa, einem gigantischen See. Der See war so groß, man konnte mit einem motorbetriebenen Boot einen Monat lang, wirklich ungelogen, einen Monat lang ohne Unterbrechung geradeaus fahren, ohne das andere Ufer zu erreichen. Es war unglaublich. Der See war wie ein Meer. Und an diesem Meer lag der Ort Qantelp. Eine Stadt, die ausschließlich aufgrund zweier Dinge existierte: 1. Fischerei, 2. Leistungssport. Das mit der Fischerei erklärt sich ja praktisch von selbst, Qantelp lag einfach perfekt an einer Bucht des Xürqa. Dort tummelten sich Unmengen Fische und so. Schön blöd, wer da keinen Fischfang betrieben hätte. Aber das mit dem Leistungssport, das will ich kurz erklären. Qantelp kannte lange Zeit keinen Sport, geschweige denn Leistungssport. Aber irgendwann, so gegen Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre hatte Stalin, ja, DER Stalin, in einer Rede verkündet, dass er unserem Volk den Leistungssport schenken wolle. Das hat er dann auch gemacht. Das damals noch kleine Fischerdorf Qantelp wurde komplett umgebaut zu dem größten Leistungssportzentrum der UdSSR. Hunderte, ach was, tausende Turnhallen und Sportplätze wurden aus dem Boden gestampft und die krassesten Sportasse aus der gesamten Sowjetunion hierhergebracht. Wahrscheinlich gegen ihren Willen, weil, wer will schon mitten in der Steppe wohnen, um den ganzen Tag nur Klimmzüge zu machen. Naja, auf jeden Fall war das mit dem Sport in Qantelp direkt 'ne Tatsache. Wer Leistungssport gemacht hatte und richtig gut war, kam früher oder später dort hin. Und man muss auch anerkennen, es hat ziemlich gut geklappt. Die Leistungssportler konnten aufgrund der reinen salzigen Seeluft immer tief durchatmen beim Joggen und Turnen und so, und auf der anderen Seite haben die Fischer Mordsumsätze gemacht, weil, die Sportler haben alle Fischbrötchen gegessen. Stalin hatte verordnet, dass gute Sportler guten Fisch als Nahrung brauchen. Das kräftigt die Muskeln, meinte er. Inwieweit die Sportler gezwungen wurden, Fisch zu essen, um die Fischwirtschaft anzukurbeln, weiß ich nicht. Naja, vermutlich hätte man sie erschossen, wenn sie sich geweigert hätten. Ich will das auf keinen Fall schönreden, es ist immer scheiße, wenn man erschossen wird, wenn man was nicht will, aber der Leistungssport und der Fischverkauf waren immerhin im Aufwind, wie man so schön sagt. Das Ganze ging ein paar Jahre gut, aber dann hat Stalin unserem beschränkten „Brudervolk“ auf der anderen Seite des Xürqa den Raps geschenkt. Damit begann schließlich das Ende unseres Fischfangs und auch unseres Leistungssports. Für den Raps hat Stalin Wasser gebraucht, das nicht salzig war. Das hat er aus den Flüssen genommen, die unseren See gespiesen haben (Konjugieren kann ich). Tja, der Raps blühte schnell leuchtend gelb bei unseren „Brüdern“, dafür trocknete unser See langsam, aber sicher aus. Nach zwanzig Jahren war nur noch die Hälfte des Sees da, heute sind nur noch 5% vom Wasser übrig. Die Fischerei war damit ziemlich schnell im Arsch, die Leistungssportler konnten keine Fischbrötchen mehr essen und wurden kraftlos. Und die satte grüne Graslandschaft um Qantelp wurde zur Wüste. „Stalinüügsem Egröew“ nennen wir diese tote Ebene heute, das heißt so viel wie „Stalin ist ein Idiot“. Die Leute dort nehmen das aber ziemlich gelassen. Es gibt in Qantelp noch ein paar ganz alte ehemalige Fischer, die dort im Staub sitzen und davon träumen, dass das Wasser irgendwann wiederkommt. Sie sind aber gar nicht traurig, sondern sagen immer: „Jaja, morgen fahr ich raus.“ Und es ist natürlich klar, dass sie morgen nicht rausfahren können, und das wissen sie auch, aber dieser verheißungsvolle Spruch gefällt ihnen und am nächsten Tag sagen sie wieder „morgen fahr ich raus, ganz sicher.“ Dieses etwas deprimierende Spielchen spielen sie seit 40 Jahren. Naja, lange Rede, kurzer Sinn: Mein Vater fährt alle zwei Wochen nach Qantelp, weil es dort noch genau eine kleine Sportschule gibt, wo ununterbrochen seit 60 Jahren trainiert wird. Und die haben einen Gymnastikballverschleiß, das kann man sich nicht vorstellen. Wenn mein Vater dort hinfährt, muss er die völlig kaputten, zwei Wochen alten Gymnastikbälle mitnehmen und neue abliefern. Und damit kann er tatsächlich gut Geld verdienen.

Auszug aus: Solomon Kerç (Hg.): Güşbeşet’s Dream. Fairytales of a Central Asian Adolescent, Birmingham/London 2012, ins Deutsche übersetzt von Nero Sandener.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Sehr interessant find ich sowas!
Kain Birkloß hat gesagt…
Herr Teusche, ich bin Ihr Vater. Wussten Sie das nicht?
Brok Hemmdichnich hat gesagt…
Laber nicht so eine Scheiße, Kain! Ich bin sein Vater, do nicht!
Ich bin seihn Vater, damitd das mal klar ist ja, Leute! Er kann so guht rechschreibung weil ehr sich vohn mir emenzipieren wollte. Is das DER bweiß für main vaterrsein?
Fett Satt hat gesagt…
Ma ne Frage. Bei euch bei Twitter steht, mal soll sich an Christoph Teusche wenden, wenn man fragen hat. Habe eine, wie eingangs schon geschrieben. Wie ist das mit dem "Schuh fürs Gehirn" zu verstehen? PS war auch bei der Menschenkette "HandinHand" dabei und habe dolle Handschmerzen, kann man mir helfen? Außerdem noch ein Tipp für Justus: Komm einfach vom baum runter, wenn du wieder, warum auch immer, oben sitzt. und zu hellmuth weimers tod vor 5 jahren: kannte den gut, war ein kumpel von mir. und zu der bananenschale (riesig): ja, sowas kann vorkommen, dass die so groß sind, um so schrecklicher, was?
bitte auf alles, was ich hier geschrieben habe eingehen, HERR TEUSCHE, auf ALLES! sonst zeig ich sie AN
Rüdiger Fahrenschon hat gesagt…
@ Alle: Sehr interessant, was sie hier so von sich geben. Bitte lassen Sie das. Und lassen sie vor allem Christoph Teusche in Ruhe, er ist zurzeit sowieso auf Kur und liest das nicht.

Wie wäre es denn, wenn sie mal anfangen würden, die aktuelle Episode aus "Güşbeşet’s Dream" zu kommentieren? Sie hatten doch alle sicher Deutschunterricht in der Schule. Wissen Sie noch, was rhetorische Stilmittel sind? Alliteration? Ellipse? Hendiadyoin? Parataxe? Wie wäre es, wenn sie den Text mal danach durchforsten würden und ihre Erkenntnisse hier teilen. Oder schreiben sie eine kleine Interpretation des Textes. Steht der große See vielleicht für etwas? Sind die Gymnastikbälle vielleicht nicht nur Gymnastikbälle, sondern viel mehr? Sie könnten auch ein eigenes Kapitel aus der Sicht von Güşbeşet verfassen und uns zusenden. Bei ausreichender Qualität (das Zusenden wird als Ausdruck ausreichender Qualität gewertet), werden wir den Text veröffentlichen.

Beste Grüße
Christoph Teusche hat gesagt…
Sehr geehrter Herr Satt (?),

auf Ihre Fragen möchte ich gern eingehen, aber damit ist es dann auch gut, nicht wahr?
Wie kommen Sie auf das mit dem Schuh? Das hört sich schwachsinnig an. Was soll das?
Interessant, daß Sie Handschmerzen haben, aber nicht unser Problem (das muß ich jetzt leider an dieser Stelle mal so "hart" sagen). Vielleicht arbeiten Sie in einem Atomkraftwerk und haben einen Uranstab angefaßt o.ä.? Dann nichts wie zum Arzt! Mit der Menschenkette hat das allerdings mit Sicherheit NICHTS zu tun!
Zu der Bananenschale: Üblicherweise sind die ja doch viel kleiner. Es war eben großes Pech. Mein Beileid, da Sie ihn ja offenbar gekannt haben.

Freundlichst
Christoph Teusche
Griesbeth Mörder hat gesagt…
Hallo, Herr Fahrenschon,

die angesprochenen Stilmittel habe ich in obigem Text vergeblich gesucht.
Dafür habe ich ein paar andere Fragen:

1) Ich spreche zufällig fließend alle Sprachen, die in der UdsSR gesprochen wurden (bis auf eine). Ich kenne aber die Wörter alle nicht, die hier verwendet werden. Würden Sie das bitte erklären?

2) Wenn der See weg war, wie sollen dann wieder Fische hineinkommen, sollte er eines Tages wieder Wasser führen? Wo sollen die denn herkommen?
Freya Furtfarth hat gesagt…
Hi, ich war dort auf einem Speerwerferinneninternat. Ich kann mich noch an die Fischbrötchen erinnern. Der Fisch war köstlich, es gab auch viele verschiedenen Sorten. Aber die Brötchen waren zum Kostzen. Das waren so weiche, mit Vanillinzucker versetze Brötchen (aus Brioche-Teig), das passte null zum Fisch. Echt eklig! Bis heute habe ich ein Trauma und kann keinen Fisch mehr essen (aber Brioche schon, komisch, oder?).
Rüdiger Fahrenschon hat gesagt…
Christoph, seit wann bist du wieder da? Wolltest du nicht bis Ende September in Qualbach auf Kur sein? Habe dein Büro bis zum 25.09. an einen fahnenflüchtigen Hauptwebel a.D. vermietet. Der ist gar nicht gut drauf und er wird dich sicher nicht in das Büro lassen.
Wenn du nicht langsam begreifst, dass man auch miteinander kommunizieren muss, damit so ein "Laden" wie dieser hier "läuft", wirst du immer den Kürzeren ziehen.

Übrigens, Aygül hat uns angezeigt. Das hat was mit dem Leichtmetallflugzeug zu tun, was ich letzte Woche für die Redaktion gekauft habe. Hab dir in einer PN mal Genaueres geschrieben. Lies das bitte! Grüße
Jenny Fingerfranz hat gesagt…
Haha...wie lustig, Freya. War dort bei den Kugelstoßerinnen und habe exakt die gleiche Erfahrung gemacht. Ich habe immer Matjes oder Backfisch genommen, aber mit diesem Briocheteig war das echt unerträglich. Ich hatte es dann auch gewagt, dort mal nachzufragen, warum die so komischen Teig für die Brötchen nehmen. Tja, ich wurde dann relativ schnell wieder ins LSZ Jena zurückverbracht.
Woher kommst du? Auch Regionalverband Süd? Oh man, was für eine Zeit das damals war :P
Marvin Keingut hat gesagt…
Ey Leute, wie krass ist das denn??? Ich war auch in Qantelp. Als ich 12 war konnte ich die 100m in 12,2 Sekunden laufen. Da haben die mich aus Neustrelitz einfach dahingebracht mit einem aus Lichtenberg und einer aus Templin. Hatte schon mal bei Facebook geschaut ob es da Gruppen für alte Profi-DDR-Kader gibt. Habe leider nie was gefunden. Ich freu mich gerade so krass das ihr hier schreibt. Das mit den Milchbrötchen und dem Fisch fand ich auch immer richtig reudig^^ Könnt ihr euch an den alten Watjew vom Sekretariat erinnern? Der mit dem Schnauzer und der Thunfischfahne? Der hatte doch in seinem Raum immer dieses riesige Bild von diesem Gorilla an der wand. Oh man ey.
Lasst mal mailadressen austauschen.

liebe Grüße, Marvin Keingut

Marvin Keingut
Am Roten Bach 19b
17235 Neustrelitz
Freya Furtfarth hat gesagt…
Hey Marvin, ja genau, der Watjew, so ein ekliger Zeitgenosse ... Also meine Adresse ist

Freya Furtfarth
Klaus-Mindrup-Weg 98
66516 Neunkirchen

(Da bin ich nach der Wende hingezogen)

Der Klaus-Mindrup-Weg wird auch manchmal als "Am Schlachthaus" bezeichnet, je nach Karte.
Marvin Keingut hat gesagt…
Okay danke. ich melde mich dann mal. Schönes WE
Rüdiger Fahrenschon hat gesagt…
Toll, wie unsere Leser_Innen hier zueinander finden. Einfach toll.

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