Vermutlich klingt das total bescheuert, aber einmal alle zwei Wochen fährt mein Vater in die Wüste, um dort Gymnastikbälle hinzubringen. Und das Merkwürdigste: Er verdient damit auch noch Geld. Ich schwöre, es ist so! Mein Vater macht das seit 40 Jahren. Früher war es so, dass der Ort, wo er die Gymnastikbälle hinbringt, nicht in der Wüste lag, sondern mitten im Grasland, am Xürqa, einem gigantischen See. Der See war so groß, man konnte mit einem motorbetriebenen Boot einen Monat lang, wirklich ungelogen, einen Monat lang ohne Unterbrechung geradeaus fahren, ohne das andere Ufer zu erreichen. Es war unglaublich. Der See war wie ein Meer. Und an diesem Meer lag der Ort Qantelp. Eine Stadt, die ausschließlich aufgrund zweier Dinge existierte: 1. Fischerei, 2. Leistungssport. Das mit der Fischerei erklärt sich ja praktisch von selbst, Qantelp lag einfach perfekt an einer Bucht des Xürqa. Dort tummelten sich Unmengen Fische und so. Schön blöd, wer da keinen Fischfang betrieben hätte. Aber das mit dem Leistungssport, das will ich kurz erklären. Qantelp kannte lange Zeit keinen Sport, geschweige denn Leistungssport. Aber irgendwann, so gegen Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre hatte Stalin, ja, DER Stalin, in einer Rede verkündet, dass er unserem Volk den Leistungssport schenken wolle. Das hat er dann auch gemacht. Das damals noch kleine Fischerdorf Qantelp wurde komplett umgebaut zu dem größten Leistungssportzentrum der UdSSR. Hunderte, ach was, tausende Turnhallen und Sportplätze wurden aus dem Boden gestampft und die krassesten Sportasse aus der gesamten Sowjetunion hierhergebracht. Wahrscheinlich gegen ihren Willen, weil, wer will schon mitten in der Steppe wohnen, um den ganzen Tag nur Klimmzüge zu machen. Naja, auf jeden Fall war das mit dem Sport in Qantelp direkt 'ne Tatsache. Wer Leistungssport gemacht hatte und richtig gut war, kam früher oder später dort hin. Und man muss auch anerkennen, es hat ziemlich gut geklappt. Die Leistungssportler konnten aufgrund der reinen salzigen Seeluft immer tief durchatmen beim Joggen und Turnen und so, und auf der anderen Seite haben die Fischer Mordsumsätze gemacht, weil, die Sportler haben alle Fischbrötchen gegessen. Stalin hatte verordnet, dass gute Sportler guten Fisch als Nahrung brauchen. Das kräftigt die Muskeln, meinte er. Inwieweit die Sportler gezwungen wurden, Fisch zu essen, um die Fischwirtschaft anzukurbeln, weiß ich nicht. Naja, vermutlich hätte man sie erschossen, wenn sie sich geweigert hätten. Ich will das auf keinen Fall schönreden, es ist immer scheiße, wenn man erschossen wird, wenn man was nicht will, aber der Leistungssport und der Fischverkauf waren immerhin im Aufwind, wie man so schön sagt. Das Ganze ging ein paar Jahre gut, aber dann hat Stalin unserem beschränkten „Brudervolk“ auf der anderen Seite des Xürqa den Raps geschenkt. Damit begann schließlich das Ende unseres Fischfangs und auch unseres Leistungssports. Für den Raps hat Stalin Wasser gebraucht, das nicht salzig war. Das hat er aus den Flüssen genommen, die unseren See gespiesen haben (Konjugieren kann ich). Tja, der Raps blühte schnell leuchtend gelb bei unseren „Brüdern“, dafür trocknete unser See langsam, aber sicher aus. Nach zwanzig Jahren war nur noch die Hälfte des Sees da, heute sind nur noch 5% vom Wasser übrig. Die Fischerei war damit ziemlich schnell im Arsch, die Leistungssportler konnten keine Fischbrötchen mehr essen und wurden kraftlos. Und die satte grüne Graslandschaft um Qantelp wurde zur Wüste. „Stalinüügsem Egröew“ nennen wir diese tote Ebene heute, das heißt so viel wie „Stalin ist ein Idiot“. Die Leute dort nehmen das aber ziemlich gelassen. Es gibt in Qantelp noch ein paar ganz alte ehemalige Fischer, die dort im Staub sitzen und davon träumen, dass das Wasser irgendwann wiederkommt. Sie sind aber gar nicht traurig, sondern sagen immer: „Jaja, morgen fahr ich raus.“ Und es ist natürlich klar, dass sie morgen nicht rausfahren können, und das wissen sie auch, aber dieser verheißungsvolle Spruch gefällt ihnen und am nächsten Tag sagen sie wieder „morgen fahr ich raus, ganz sicher.“ Dieses etwas deprimierende Spielchen spielen sie seit 40 Jahren. Naja, lange Rede, kurzer Sinn: Mein Vater fährt alle zwei Wochen nach Qantelp, weil es dort noch genau eine kleine Sportschule gibt, wo ununterbrochen seit 60 Jahren trainiert wird. Und die haben einen Gymnastikballverschleiß, das kann man sich nicht vorstellen. Wenn mein Vater dort hinfährt, muss er die völlig kaputten, zwei Wochen alten Gymnastikbälle mitnehmen und neue abliefern. Und damit kann er tatsächlich gut Geld verdienen.
Auszug aus:
Solomon Kerç (Hg.): Güşbeşet’s Dream. Fairytales of a Central Asian Adolescent, Birmingham/London 2012, ins Deutsche übersetzt von Nero Sandener.
Kommentare
bitte auf alles, was ich hier geschrieben habe eingehen, HERR TEUSCHE, auf ALLES! sonst zeig ich sie AN
Wie wäre es denn, wenn sie mal anfangen würden, die aktuelle Episode aus "Güşbeşet’s Dream" zu kommentieren? Sie hatten doch alle sicher Deutschunterricht in der Schule. Wissen Sie noch, was rhetorische Stilmittel sind? Alliteration? Ellipse? Hendiadyoin? Parataxe? Wie wäre es, wenn sie den Text mal danach durchforsten würden und ihre Erkenntnisse hier teilen. Oder schreiben sie eine kleine Interpretation des Textes. Steht der große See vielleicht für etwas? Sind die Gymnastikbälle vielleicht nicht nur Gymnastikbälle, sondern viel mehr? Sie könnten auch ein eigenes Kapitel aus der Sicht von Güşbeşet verfassen und uns zusenden. Bei ausreichender Qualität (das Zusenden wird als Ausdruck ausreichender Qualität gewertet), werden wir den Text veröffentlichen.
Beste Grüße
auf Ihre Fragen möchte ich gern eingehen, aber damit ist es dann auch gut, nicht wahr?
Wie kommen Sie auf das mit dem Schuh? Das hört sich schwachsinnig an. Was soll das?
Interessant, daß Sie Handschmerzen haben, aber nicht unser Problem (das muß ich jetzt leider an dieser Stelle mal so "hart" sagen). Vielleicht arbeiten Sie in einem Atomkraftwerk und haben einen Uranstab angefaßt o.ä.? Dann nichts wie zum Arzt! Mit der Menschenkette hat das allerdings mit Sicherheit NICHTS zu tun!
Zu der Bananenschale: Üblicherweise sind die ja doch viel kleiner. Es war eben großes Pech. Mein Beileid, da Sie ihn ja offenbar gekannt haben.
Freundlichst
Christoph Teusche
die angesprochenen Stilmittel habe ich in obigem Text vergeblich gesucht.
Dafür habe ich ein paar andere Fragen:
1) Ich spreche zufällig fließend alle Sprachen, die in der UdsSR gesprochen wurden (bis auf eine). Ich kenne aber die Wörter alle nicht, die hier verwendet werden. Würden Sie das bitte erklären?
2) Wenn der See weg war, wie sollen dann wieder Fische hineinkommen, sollte er eines Tages wieder Wasser führen? Wo sollen die denn herkommen?
Wenn du nicht langsam begreifst, dass man auch miteinander kommunizieren muss, damit so ein "Laden" wie dieser hier "läuft", wirst du immer den Kürzeren ziehen.
Übrigens, Aygül hat uns angezeigt. Das hat was mit dem Leichtmetallflugzeug zu tun, was ich letzte Woche für die Redaktion gekauft habe. Hab dir in einer PN mal Genaueres geschrieben. Lies das bitte! Grüße
Woher kommst du? Auch Regionalverband Süd? Oh man, was für eine Zeit das damals war :P
Lasst mal mailadressen austauschen.
liebe Grüße, Marvin Keingut
Marvin Keingut
Am Roten Bach 19b
17235 Neustrelitz
Freya Furtfarth
Klaus-Mindrup-Weg 98
66516 Neunkirchen
(Da bin ich nach der Wende hingezogen)
Der Klaus-Mindrup-Weg wird auch manchmal als "Am Schlachthaus" bezeichnet, je nach Karte.
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