Es war der
letzte Abend, an dem sich Milazim in Ulaanbaatar
aufhielt. Er wollte noch einmal spazieren gehen, noch einmal die
Stadt bei Dunkelheit sehen. Die großen Prachtstraßen kreuzten
seinen Weg, dann kam er in die kleinen, von Arbeitern bewohnten
Gassen. Der Wind wehte kühl, es war noch Sommer, doch die Stimmung
kündete schon vom Herbst. Milazim setzte sich auf eine Bank und zündete sich eine Zigarette der Marke Eshquood an, da hörte
er immer lauter werdende Stimmen. Sie kamen aus einer Kneipe, vom
Wind zu ihm getragen. Er verstand nicht alles, die Stimmen sprachen
in einem merkwürdigen Dialekt. Doch er verstand vieles. „Ich halte
es nicht mehr aus! Ich halte es einfach nicht mehr aus! Weißt du,
was mich am aller meisten ankotzt? Daß ich nicht einfach gehen kann.
Wenn ich einmal unterwegs bin, muss ich sechs Monate bleiben. Es ist
zum Heulen! Ich möchte einfach weg. Das geht natürlich nicht, aber
es sammelt sich so viel Hass in mir, daß ich es gar nicht mehr
aushalte!“
Milazim zog an seiner Zigarette, die Jacke hatte er inzwischen zugemacht, da es ziemlich kühl war. „Tradition hin oder her, ich kann und will nicht mehr! Was soll das überhaupt? Was hat das für einen Sinn, in der heutigen Zeit mit einer Herde Ziegen durch die Steppe zu ziehen? Wenn ich 70 Jahre alt bin, stehe ich da und was kann ich über mein Leben sagen? Dass ich jedes Jahr mit einer Herde Ziegen durch die Steppe gezogen bin.“
Milazim zog an seiner Zigarette, die Jacke hatte er inzwischen zugemacht, da es ziemlich kühl war. „Tradition hin oder her, ich kann und will nicht mehr! Was soll das überhaupt? Was hat das für einen Sinn, in der heutigen Zeit mit einer Herde Ziegen durch die Steppe zu ziehen? Wenn ich 70 Jahre alt bin, stehe ich da und was kann ich über mein Leben sagen? Dass ich jedes Jahr mit einer Herde Ziegen durch die Steppe gezogen bin.“
Als Milazim fertig war mit
seiner Zigarette, ging er über die Straße, er folgte den Stimmen,
bis er schließlich vor der Kneipe stand. Er ging vorsichtig hinein
und orderte einen Wodka und einen Pflaumenwein. Das spartanisch
eingerichtete Lokal war fast leer, es standen lediglich vier Tische und
der Tresen im Raum. Bis auf den Wirt und zwei Gäste war niemand da.
„Wer bist du denn?“ fragte derjenige Mann Milazim, der sich die
ganze Zeit aufgeregt hatte. „Ich heiße Milazim“, erwiderte er
trocken, „ich habe dich von draußen gehört und das hat mich
neugierig gemacht. Du klingst unzufrieden. Unzufrieden mit deinem
Leben? Und wie heißt du eigentlich?“ Der aufgebrachte Mann schwieg
einen Augenblick, nahm einen Schluck seines Bieres und sagte
aggressiv: „Ich heiße Iraj, mein Leben geht dich aber gar nichts
an. Mein Kumpel hier ist Nuokashim.“ Dieser verabschiedete sich
höflich und ging nach Hause, da er am nächsten Tag früh zur Arbeit
musste.
Milazim, der von Irajs
Ruppigkeit etwas irritiert war, fragte diesen, ob er sich zu ihm
setzen wolle. Iraj antwortete nicht, er bestellte sich noch ein Bier
und setzte sich wortlos zu Milazim. „Was willst du? Ich habe ein
Scheißleben, aber was geht dich das an? Hä?“ Milazim fragte noch
einmal nach: „Was an deinem Leben ist denn so furchtbar?“ Iraj
trank in einem Zug die Hälfte seines frisch bestellten Bieres, dann
fing er in einem deutlich weniger aggressiven Ton an, zu erzählen:
„Es tut mir leid, daß ich so sauer bin, du kannst ja nun am
allerwenigsten etwas für meine Situation. Ich komme aus der Region
Uws-Aimag. Das ist eine sehr traditionelle Gegend im äußersten
Westen unseres Landes, wo es noch Argalis und Schneeleoparden gibt.
Das Klima ist mit bis zu -58 Grad im Winter und +47 Grad im Sommer
sehr extrem. Außer einem riesigen See, dem Uws Nuur, haben wir noch
ein paar Berge, sonst nur Wiesen und Wüste...“
Milazim hat sein Gesicht
inzwischen auf seine zu Fäusten geballten Hände gelegt. „Kannst
du bitte aufhören, so lexikonartig deine Heimat zu beschreiben, da
wird man echt müde von. Dankeschön.“
Iraj wurde wieder
aggressiver: „Was soll das? Ich wollte dir gerade ein Bild von
meiner Heimat im Kopf zeichnen und da sind blanke Informationen halt
am besten.“ Milazim schüttelte den Kopf: „Beschreib Momente,
Situationen oder Menschen aber bitte gib nicht tabellenartig
irgendwelche Informationen wieder. So, jetzt mach weiter.“
Iraj trank sein Glas
langsam leer, behutsam stellte er es ab, dann fuhr er fort. „Jedes
Jahr, seit ich geboren bin, ziehe ich mit meiner Familie durch diese
Region. Wir haben Ziegen, von denen wir alle zwei Wochen eine
schlachten, um uns zu ernähren. Das ist so widerlich, ausschließlich
Ziege zu essen. Jeden Körperteil verwerten, sogar die
Nasenschleimhaut werfen wir nicht weg!“
Milazim lächelte: „das
ist ja furchtbar, aber du hast aufgehört bloß aufzuzählen, das
gefällt mir.“
Iraj fuhr fort:
„Außerdem wohnen wir in einer Jurte. Das ist am verschissensten,
immer wieder das Zelt auf- und abzubauen, wenn wir wieder rumreisen.
Zuerst muss man die Pflöcke aufstellen, das Zelt muss immer nach
Süden ausgerichtet sein, das ist unser Aberglaube. Dann muss die
Krone, ein dünner Dachkranz, in der Mitte aufgestellt werden und
durch Stangen mit den Außenstangen verbunden werden. Die
Dachstangen haben in der Regel eine Neigung von etwa 30 Grad...“
Auf einmal unterbrach Milazim Iraj:
„Merkst du was? Du verfällst schon wieder in diesen lexikonartigen
Erzähltrott. Das ist ganz furchtbar. Lass das bleiben, so
kann man dir echt nicht zuhören. Wen interessiert denn, dass
Dachstangen in einer Jurte eine Neigung von 30 Grad haben? Sag's mir,
wen interessiert das?“ Iraj wurde wütend. Er stand auf und warf
sein Glas gegen die Wand. „Was willst du eigentlich von mir? Es ist
widerlich, wie du mich verbesserst. Du erzählst zu lexikonartig
deine Geschichte, blablabla. Das ist halt mein Erzählstil und wenn
er dir nicht passt, dann hör mir halt nicht zu. Ich hau jetzt ab!“
Während Iraj das Lokal verließ, rief er dem Wirt noch zu, daß
Milazim die Rechnung übernimmt. Dieser ging nun zur Kasse, um zu
bezahlen, wobei er mit dem Wirt ins Gespräch kam: „Ist der immer
so cholerisch? Tut mir leid mit dem Glas, aber ich musste ihn einfach
verbessern. Dieser stupide und einfallslose Erzählstil ist unsäglich
und letztendlich auch ein Schuss ins eigene Knie.“ Der Wirt nickte
zustimmend: „Ich bin ja froh, daß das noch jemandem außer mir mal
aufgefallen ist. Er ist nett, aber er erzählt immer so. Ich habe mich
nie getraut, ihm das zu sagen. Ich kenne ihn schon länger, aber wenn
er anfängt zu erzählen, dann schlafen alle ein.“ Milazim lachte,
legte das Geld hin, verabschiedete sich herzlich und ging aus dem
Lokal.
Auf der anderen Straßenseite stand
sein Phantasieauto. Er stieg ein, anschnallen war nicht nötig, er
startete den Motor und flog los. Er segelte in hunderten Metern
Höhe über die Felder, immer und immer schneller, zum richtigen
Zeitpunkt kam er am richtigen Ort an. Nachdem das, was er tun musste,
erledigt war, flog er weiter. Er raste in eine ferne Galaxie, dort
zerschmolz er und schließlich wurde er zu Selbstgefälligkeit und Glück.
Kommentare
Du treibst dich hier auch wieder zwischen den Kommentierer_innen herum, was?
Hast du keine Artikel zu schreiben? :-)
Spaß :-)
Ich weiß doch, wie sehr du um unsere Leserschaft bemüht bist :-) :-)
Ach ja, die Geschichte ist natürlich auch gut! ;)
an dieser Stelle mal ein Lob für Ihren guten Geschmack! Bleiben Sie uns treu!
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