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Føroyar

Richard wachte erschöpft auf. Er hatte am Tag zuvor noch bis Mitternacht die Schafe in das Gehege treiben müssen. Langsam stieg er die Treppen des kleinen Holzhauses herunter, sprach kurz mit seiner Gastmutter, Istærd, und verließ das Haus. Er folgte der kleinen Dorfstraße, die am Vormittag immer von Nebel verhangen war. Kleine schwarze Holz- und Steinhäuser, welche mit Gras gedeckt waren, umschlossen seinen Weg.
Nach wenigen Minuten schon verließ er den Ort und die Straße. Er lief quer über das Feld, den Hügel, der zu einem über 770 m hohen Berg werden sollte, herauf. Zuerst ging es aber noch mal bergab. Er rannte und rutschte auf der nassen Wiese, immer das Meer im Blick. Überall war Meer, denn Richard befand sich auf den Färöern, auf der Insel Vágar.
Als er das Tal durchschritten hatte, erblickte er auf einmal ein kleines Haus. Es war nur schwer zu erkennen, da es komplett mit Gras bewachsen war und in der Landschaft völlig unterging.
Richard wusste nicht so recht, ob er zu dem Haus gehen sollte, doch dann entschied er sich dafür.
Er näherte sich dem urwüchsigen Gebäude von hinten. Ungefähr 10 m vor dem Haus blieb er stehen. Seinen Blick ließ er nochmals durch die märchenhafte Landschaft schweifen, er schaute zu den Bergen, als ganz plötzlich eine heisere Stimme etwas zu ihm rief: „Hej, hvem er du? Du er ikke fra her omkring, er du?“ Richard war kurz erschrocken, lief aber rasch um das Haus herum, um den Urheber der Stimme zu entdecken. Da saß er, ein uralter, faltiger, erschöpft wirkender, aber glücklich aussehender Mann.
Hej, hvem er du? Du er ikke fra her omkring, er du?“, wiederholte der Mann und zeigte dabei auf Richard, während er sich mit der anderen Hand an seinem Hemd festhielt.
Richard konnte noch kein Wort dänisch, geschweige denn färöisch, er war ja erst seit 3 Tagen da. Und seine Vorbereitungskurse für den Freiwilligendienst hatte er alle verpasst, da sein Vater verstorben war und er kurzfristig zu der Beerdigung nach Röppen, einem kleinen Dorf im tiefsten Westen der Republik, hatte fahren müssen.
Hallo, mein Name ist Richard, verstehen Sie mich?“ Er sprach sehr langsam und artikulierte sich übermäßig. „Ich bin deutsch! Ich bin ein deutscher junger Mann!“ Der alte Mann antwortete: „Jeg taler kun dansk, så jeg forstår ikke, hvad du siger! Men du kan stadig gerne påpege, at du er en tysk!”
Der alte Mann verstand sehr gut deutsch, er hatte in den 50er Jahren einige Zeit in Bochum gelebt. Doch das wollte er dem jungen Austauschfreiwilligen nicht mitteilen und sich einen Spaß daraus machen, so zu tun, als sei er ahnungslos. Außerdem war er erst 73 Jahre alt und körperlich noch sehr fit, dennoch bewegte er sich wie ein Hundertjähriger, nur um dem jungen Deutschen etwas vorzuspielen. Außerdem saß er auch auf keinem Holzstuhl, wie der junge Richard es glaubte, sondern auf einem braun lackierten und bearbeiteten Metallstuhl, der im Holz-Look daherkam.
Richard war die Situation sichtlich unangenehm, da er einfach nicht wusste, wie er sich mitteilen sollte. Er glaubte, mit Mimik und Gestik und einer noch langsameren Aussprache könnte er Kommunikationserfolg haben: „Lieber Mann von den Färöern, wie heißen Sie? Ich heiße
R I C H A R D! Ich nehme an, dass Ihnen Tradition sehr viel bedeutet, da Sie eine Tracht tragen. Ich trage keine Tracht, ich habe einen Anorak an! Einen blauen Anorak. Außerdem sind meine Schuhe auch sehr gut bei diesem Wetter.“
Der alte Mann musste lachen und nickte die ganze Zeit mit dem Kopf, während Richard sprach.
Du er lort. Lort virkelig“, sagte der alte Mann. Richard nickte, wusste aber natürlich nicht, was ihm gerade gesagt wurde. Was Richard auch nicht wusste, war, dass das linke Bein des Mannes auch nicht echt war, es war eine Kunststoffprothese. So auch das rechte Bein. Und die massive Brille die er trug, hatte deutlich weniger Dioptrien, als die Dicke der Gläser es hatte erahnen lassen. Außerdem war das große Hörgerät, das er im rechten Ohr trug, auch nur eine Attrappe. Richard hatte all diese Täuschungen nicht durchschaut. Selbst die Tracht, die der alte Mann trug, war nicht färöisch, sondern finnisch, doch auch das fiel dem jungen Richard nicht auf. Genauso, wie die Identität des alten Mannes. Er hieß in Wirklichkeit Sterven Uhøld und nicht Ølkjø Mærven, wie es in seinem gefälschten Personalausweis, auf dem auch die Farben der faröischen Flagge in keiner Weise den echten entsprachen, klafften.
Richard wollte natürlich nicht unhöflich sein und versuchte, sich zu verabschieden: „Sie sprechen also definitiv keine deutsche sprecken, hihi, den Fehler verstehen Sie ja dann sowieso auch nicht. Also, leben Sie wohl, alter Mann!“
Der alte Mann lächelte noch immer, holte tief Luft und sagte dann in bestem Deutsch: „Leb auch wohl, junger Deutscher Richard! Wie du siehst, kann ich auch deutsch sprechen. Und nicht nur darüber habe ich dich getäuscht, sondern auch über...“. Der alte Mann zählte alles auf, Richard war entsetzt. Entsetzt und beschämt: „Sogar die Farben der färöischen Flagge in Ihrem gefälschten Pass entsprechen nicht der Wahrheit? Das ist so falsch von Ihnen! Warum haben Sie das getan.“ Der alte Mann wollte auf die Frage nicht mehr antworten. Richard ging wortlos fort. Nun machte sich ein Gefühl der Peinlichkeit in ihm breit. Unendliche, nicht erträgliche Peinlichkeit.

Der Wecker klingelte und Richard schreckte auf, wobei ihm unkontrolliert der Satz
„Verlogenes Färöer-Pack, verschwindet!“ von den Lippen kam. Er hatte schlecht geträumt. Im Wohnzimmer, wo seine Mutter schon das Frühstück gemacht hat, setzte er sich auf einen Stuhl. “Hast du schlecht geträumt, Richy?“ ,fragte sie ihn, „Ich habe gehört, wie du verallgemeinernd auf das färöische Volk geschimpft hast.“ Er erzählte ihr den ganzen Traum. Sie war sichtlich erschrocken: „Sogar das Hörgerät war nur eine Attrappe?“ Nein so was! Aber Richy, wahrscheinlich hast du nur so schlecht geträumt, weil du ja nachher deine praktische Führerscheinprüfung hast, da bist du sicher sehr aufgewühlt. Außerdem haben wir ja gestern Abend noch die Dokumentation „Wildes Schottland – Von Edinburgh bis zu den High Lands“ auf NDR geschaut. Schottland liegt ja nicht so weit von den Färöern weg, daher kommt der Traum vielleicht.“

Um 17 Uhr begann die Fahrprüfung. Richard glaubte, dass alles sehr gut lief. Es musste aber auch gut laufen, da es sein dritter Anlauf war. Nach einer halben Stunde sagte sein Fahrlehrer ihm, er solle rechts ran fahren. „So Richard, was meinen Sie? Haben Sie einen Führerschein verdient oder haben Sie ihn nicht verdient?“ Richard wollte gerade antworten, da fuhr der Fahrlehrer schon fort: „ Ich denke, Sie haben ihn nicht verdient und ich kann Ihnen auch die Gründe nennen. Sie haben zwei Mal die Geschwindigkeitsbegrenzung und einmal eine Vorfahrt missachtet, Sie sind über einen Zebrastreifen gefahren, obwohl Kinder diesen passieren wollten und und und...“
Richard stieg aus dem Auto aus, schüttelte dem Fahrlehrer, der ihm noch einmal alles Gute wünschte, die Hand und ging wieder nach Hause.

Kommentare

Ullstein hat gesagt…
Wie kommen Sie dazu, so selbstherrlich über die Farögäer (sic!) herzuziehen? Meine Schwiegermutter war Farögäerin, eine patente Frau! Sie hat uns immer Pullis aus Shetlandponyfell genäht. Auch nachdem wir sie mehrmals darauf hingewiesen hatten, daß Shetlandponys ja wohl eher woanders leben, aber sie nähte munter weiter, immer Größe 76, selbst für meinen Sohn. Eine dumme, einfältige, störrische und auch geizige Frau! Nach reiflicher Überlegung schließe ich mich der Anklage, die aus diesem Text hervorgeht, an!
Kiter Verbel hat gesagt…
Sehr geehrter Herr Ullstein,
wie es mir scheint, haben Sie den Text nicht verstanden. Eine Geschichte, die der klassischen "Drei-Abschnitts-Form" folgt (hier: Traum - Dialog - Führerscheinprüfung), ist weit mehr als eine Anklage. Wozu denn drei Abschnitte, wenn es nur darum geht, jemanden anzuklagen. Hier wird von einer "Mutter" gesprochen, die "Führerscheinprüfung" besteht der junge Richard nicht und als Ausweg rettet er sich in einen Traum, in eine paradisische Gegend. Der alte Mann vor dem Haus ist völlig unbedeutend für die Geschichte. Auch die Täuschung ist nur völlig nebensächlich.
Herr Ullstein, wenn Sie schon etwas lesen, dann lesen Sie es gefälligst auch richtig!
Reclam hat gesagt…
Lieber KREM, dürfen wir Ihre Kurzgeschichten aus dem Jahr 2013 sammeln und unter dem Titel "DER KREM. Kurzgeschichten des Jahres 2013!" veröffentlichen.
Natürlich in einem kleinen gelben Büchlein, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Bei Interesse bitte eine email an: reclambuchbuchgelbkleindünn@gotmail.fs
Beck-Verlag hat gesagt…
Sehr geehrte Chefredaktion des KREMs, lieber Christoph, lieber Rüdiger,

auch wir, der Beck-Verlag, haben Interesse, Geschichten, aber auch Artikel, von Ihnen zu veröffentlichen. Nun sind wir ja ein Verlag, der Schwerpunktmäßig (ausschließlich) juristische Fachliteratur vertreibt. Dennoch denken wir (wir), daß die Geschichten des KREMs auch für die Jurispudenz wertvoll sein könnten. Wir würden, um eine Art Verbindung zu schaffen, zwischen KREMinhalten und der Rechtswissenschaft, vor jedem Wort einer KREMgeschichte, ein Paragraphenzeichen (§(§)) setzen.

Bitte melden Sie sich, sofern Sie Interesse haben, bei uns: beckverlagminusonline-@jurmail.got2be
Rüdiger Fahrenschon hat gesagt…
Christoph, schau mal, da wollen namhafte Verlage unsere Texte drucken.

@namhafte Verlage: wir halten uns zunächst bedeckt!

@Kiter Verbel: jaja, sehr schlau...Idiot. Unser Autor hat sich GAR NICHTS gedacht, als er das geschrieben hat! Kiter, du machst uns alle krank!
Ullstein hat gesagt…
Und Sie sind...?
Christoph Teusche hat gesagt…
Lieber Rüdiger,
das ist doch eine schöne Idee! Lieber Beck-Verlag, ehrlich gesagt sind die meisten Geschichten auch schon mit der Veröffentlichung als Lehrtexte im Hinterkopf geschrieben worden. Ihre Bitte hatten wir also schon erwartet. Lieber Reclam-Verlag, bitte nicht böse sein, aber die Idee einer Kurzgeschichtensammlung halte ich dann doch für arg unpassend! Vieleicht wenden Sie sich mal an den Postillon, dort soll man über jede Möglichkeit, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, dankbar sein.
KREMfreund_01 hat gesagt…
So was müsen Jura Studenten lernen? Seit ihr behindert alta
Christoph Teusche hat gesagt…
... und, lieber Beck-Verlag, macht euch nichts aus Kremfreund_01! Hunde, die bellen, beißen nicht!
KREMfreund_01 hat gesagt…
alta stell mal net meine Autorität in Frage! :-)

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